AG "Theologische Grundlagen"

 „Reich Gottes und seine Gerechtigkeit1“ 

Das Reich Gottes als Fest offener Kommensalität

Das wohl dichteste Bild für das Reich Gottes in den Gleichnissen Jesu ist jenes vom Hochzeitsmahl, das ein König seinem Sohn ausrichtet und zu dem die Bösen vor den Guten erscheinen2 und jenes vom Festmahl, dem die ursprünglich Geladenen fernbleiben, zu dem dann aber Arme, Krüppel, Blinde und Lahme und jedwede Leute von der Strasse eingeladen werden3 (vgl. Lk 14,15-24). Ein solches Fest stellt eine offene Tischgemeinschaft dar, eine „offene Kommensalität“ ( von lat. „con“ = mit und „mensa“ = Tisch), bei der die Tischordnung nicht im Kleinen die grosse Gesellschaftsordnung mit ihren vertikalen Diskriminierungen und lateralen Trennungen widerspiegelt. Damit meint Jesus mit dem Reich Gottes die Vision einer solidarisch-egalitär-offene Gesellschaft und Welt, in der sich alle Menschen gegenseitig als gleichberechtigte und bedürftige Subjekte anerkennen. Die Anerkennung der Bedürftigkeit bezieht sich ganzheitlich auf alles, was es zu einem Leben in Würde und Fülle braucht. Deshalb ist das Reich Gottes eine Gemeinschaft, in der sich alle als körperlich-materiell, sozial und kulturell-religiös bedürftige Subjekte anerkennen.


Inhaltliche Fülle

Jede Gesellschaft muss drei Grundprobleme lösen und dazu Instanzen ausbilden, die als komplex strukturiertes Ganze eine Gesellschaftsformation konstituieren: Ökonomie zur Sicherung des physischen Lebens, Politik im Sinne der Polis zur Regelung des Zusammenlebens und Kultur/Religion/Ideologie für ein sinnvolles Leben. Die Reich-Gottes-Praxis und –Botschaft Jesu enthält für die Lösung der drei Grundprobleme folgende Aspekte:

Ökonomisch: Als Reich der Bettelarmen4 ist das Reich Gottes die Vision einer Gesellschaft und Welt, in der niemand bangen muss ums tägliche Brot, in der alle satt werden und in der alle das an materiellen Gütern und finanziellen Mitteln5 erhalten, was sie zu einem ökonomisch abgesicherten Leben in Würde und Fülle brauchen.

Dem Reich Gottes entspricht eine Ökonomie der Gerechtigkeit im Dienst des Lebens, wogegen eine Ökonomie der Bereicherung im Dienst des Todes6 unvereinbar mit dem Reich Gottes ist.


Poltisch: Als Reich der gesellschaftlichen Niemande7 ist das Reich Gottes die Vision einer solidarischen Gesellschaft und Welt, in der niemand verachtet, diskriminiert oder ausgeschlossen wird, in der alle Platz haben und all das an menschlicher Zuwendung,8 sozialer Anerkennung9 und vorbehaltloser Vergebung10 erhalten, was sie zu einem Leben in Würde und Fülle brauchen.

Dem Reich Gottes entspricht eine offen-egalitär-integrierende politische Ordnung, wogegen unterdrückerisch-diskriminierend-ausgrenzende Verhältnisse unvereinbar mit dem Reich Gottes sind.


Kultur/Religion/Ideologie: Als Reich, das Gottes Reich ist, in dem der Wille des Vaters erfüllt wird,11 ist das Reich Gottes die Vision einer Gesellschaft und Welt, in der niemand von Dämonen drangsaliert wird,12 in der nichts und niemand an die Stelle Gottes tritt, in der das Grundgesetz der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe13 gilt und in der über alle weltanschaulichen Grenzen hinweg im Suchen des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit14 die Hoffnung auf ein sinnvolles Leben in Würde und Fülle aller Menschen praktisch bezeugt wird.

Dem Reich Gottes entsprechen kulturell-religiöse Normen und Sinndeutungen, die im Dienst des Lebens stehen, wogegen religiös oder sonstwie legitimierte Verhältnissen benachteiligender, beherrschender oder bevormundender Art unvereinbar mit dem Reich Gottes sind.


Komplexe Struktur

Das Reich Gottes umfasst mehrere Spannungsfelder, deren Pole weder unverbunden dual nebeneinander stehen, noch sich dualistisch gegenseitig ausschliessen, sondern dialektisch aufeinander bezogen sind.

Das Reich Gottes ist ebenso radikal Geschenk Gottes15 wie es radikal in Pflicht nimmt,16 sich an ihm zu orientieren.

Es ist in Jesus angebrochen und fragmentarisch in dieser Welt gegenwärtig,17 seine Vollendung steht als verheissene Tat Gottes18 aber noch aus.

Es ist von Jesus in dieser Welt bezeugt worden und seine Gerechtigkeit gilt dieser Erde,19 es ist aber nicht von dieser Welt.20

Es hat eine persönlich-existentielle Dimension, indem es die Einzelnen zur Umkehr einlädt,21 es beinhaltet aber auch politisch-strukturelle Dimensionen im Sinne einer Umkehrung der Verhältnisse22 für ein Leben in Fülle aller Menschen.

Das Reich Gottes war in der Verkündigung Jesu symbolisch präsent23 und ist es auch heute in religiöser Rede und liturgischer Feier, es soll aber in der Nachfolge Jesu praktisch bezeugt werden.24


Reich-Gottes-Verträglichkeitsprüfung

Das Verhältnis zwischen den jedesemaligen wirklichen Lebensverhältnissen und dem Reich Gottes ist weniger quantitativ zu bestimmen, weil dies die Gefahr einer „transzendentalen Illusion“25 in sich birgt, wonach das Reich Gottes bei genügender Anstrengung in einem unendlichen Progress letztlich doch verwirklicht werden könnte. Eine qualitative Bestimmung des Verhältnisses kann in praktischer Absicht mit der Kategorie „Reich-Gottes-Verträglichkeitsprüfung“ geschehen. Diese fragt danach, ob bestimmte Verhältnisse mit dem Reich Gottes überhaupt vereinbar seien oder nicht.

Bei dieser Zuordnung ist von der historisch-eschatologischen Doppelstruktur des Reiches Gottes auszugehen. Das Reich Gottes ist sowohl orientierendes und motivierendes Kriterium für die Ausgestaltung historischer Projekte als auch eschatologisch-utopischer Horizont seiner als Tat Gottes verheissenen Vollendung. Die Differenz zwischen historischem Projekt und utopischem Horizont im Sinn einer „Kritik der utopischen Vernunft“ (F.J. Hinkelammert) ist wichtig, da sie die Zukunft nach vorne offen hält und verhindert, dass sich ein historisches Projekt als das Ganze (totum) und Letzte (ultimum) ausgibt und sich so in idolatrischer Weise mit dem eschatologischen Horizont identifiziert.


Eine Gesellschaft ist so weit Reich-Gottes-verträglich als ...