Weisheit,1 oder: Leben wächst nicht aus Berechnung, Leben wächst aus Liebe
Weisheit (W) war zu keiner Zeit an der Zeit – Sind wir bereit und offen, auf Weisheit zu hören? Lesen wir noch vergleichsweise ‚uninformative‘ weisheitliche Textgestaltungen? –, gleichwohl begleiten weisheitliche Texte, wie sie sich in der hebr. Bibel und in deren Umwelt (wie in vielen religiösen Traditionen finden), die Geschichte Israels zwischen dem 10. und 3. Jh. v. Chr.; biblisch gesehen gehören dazu die Spr, Koh und Hiob sowie eine ganze Reihe im AT verstreuter Texte (sowie weitere jüdische Weisheitsschriften), denn die W war Lebensweisheit für jedermann und jedefrau, die hineinwirkt in alle Lebensbereiche. "Im Anfang" spielte sie beim Schöpfer:2 spielend erschafft sie die Welt, spielend sucht sie nach neuen Lebensmöglichkeiten – wie das Kind sich seine Welt erspielt.
Im Alt- und Mittelhochdeutschen lagen W und Wissen noch nahe beieinander, doch – das wußten schon die Brüder Grimm – die "loslösung der wissenschaft vom leben" hat die "trennung von weisheit und wissenschaft" in der Geschichte der abendländischen Kultur befördert (Wörterbuch XIV, S. 1013).
Die Sprache der W war nicht nur Informationsmittel, sondern sie zielte auf Verständigung und wurde in ihrem emotionalen Gehalt ernst genommen: Sie war Beziehungssprache, die nicht nur Wissen und Erfahrung vermitteln, sondern auch die Beziehung, die der Weise dazu hat, aufleuchten lassen wollte. Sprache war im Zusammenhang von Ästhetik und Ethik der Spiegel der Beziehung zu Welt und Leben und hatte so immer auch ethische Qualität: Worte der W sollten wahr sein und sich im Leben bewähren können. Nicht Herrschaft "über" war Ziel weisheitl. Sprache, sondern Verstehen und Verständigung (Versprachlichung der Welt). W deckt Wirklichkeit auf, indem sie sie bezeichnet, ihr einen Namen gibt, das Bezeichnende einer Situation entschlüsselt – ohne moralischen Zeigefinger, sondern eher als Appell an die Einsicht und Vernunft der Menschen. Dabei wird Wahrheit nicht auf den Begriff gebracht oder definiert – also ein- und ausgegrenzt –, sondern es wird ein Sprachraum eröffnet, in dem Differentes zueinander in Beziehung gesetzt wird. So erschließt sich Wahrheit nicht in einer monologischen Existenz, sondern sie ergibt sich, fällt einem/einer zu im Dialog, in der Begegnung, der Beziehung: Das Geheimnis der W ist die Wahrheit, die aus der Beziehung zu den Sachen und zu den Menschen wächst.3
Für die Orte – den Sitz im Leben – der W ist entscheidend, dass der Weise nicht in erster Linie der Intellektuelle war, sondern jeder und jede, der/die sein/ihr Handwerk verstand.4
Hinsichtlich der Themen der W gibt es kein Feld der Wirklichkeit, das den Weisen zu unbedeutend gewesen wäre. Alles konnte mit ihrer Aufmerksamkeit rechnen, wurde von ihnen beobachtet, registriert, inventarisiert, in seiner Besonderheit und Vergleichbarkeit oder Differenz geortet und ihrem Erfahrungsschatz hinzugefügt. Erfahrung wurde dabei nicht einem Dogma untergeordnet, der Eindimensionalität geopfert, sondern in ihrer Widersprüchlichkeit wahrgenommen (induktiver – nicht deduktiver – theologischer Ansatz). Darin liegt auch die besondere Alltagsnähe der W und ihr Gesättigtsein mit den Erfahrungen des Lebens und der Menschen.5 W versteht sich als reflektiertes und zum Nachdenken herausforderndes Erfahrungswissen. Nicht Widerspruchslosigkeit war dabei das Ziel der W (s.o.), sondern durch Erfahrung verifizierte Wirklichkeitsnähe: W ist ein "offenes System". Dabei stellt sich für die W die Frage nach Gott und sie wirbt dafür, sich in den eigenen Erfahrungen für Gott offen zu halten und so sich nicht auszuliefern an das, was ist, sondern die eigene Freiheit zu bewahren. Dabei will W zum Vertrauen verlocken, ohne dass dies als Glücksversprechen oder -garantie zu verstehen wäre. Wenn W von der Schöpfung erzählte, dann will sie damit einüben in das Elementare des Lebens, einweisen in das, was keine und keiner sich selber geben kann:6 "Kein Mensch verdankt sich selbst. Er kann sich allenfalls das Leben nehmen, nicht aber geben. Leben wird über ihn verfügt. Will er über sich selbst verfügen, mit letztgültiger Autonomie, dann kann er allenfalls zu einem Meister des Todes werden.7 " Die Welt als Schöpfung zu verstehen, bedeutete weiter, alles in Beziehung zu denken, den Menschen als eine "theo-bio-psycho-soziale Einheit" zu denken. Von der Beziehung zur Schöpfung her kam auch der gesellschaftliche Gegensatz von arm und reich in den Blick. Die W entwarf ein soziales Beziehungsgeflecht, in welchem die Würde der Person unabhängig von ihrer sozialen Stellung unterstrichen wird (was dezidiert auch für den König galt). Damit gewann der Schöpfungsglaube der Weisen auch eine sozialkritische Funktion: gesellschaftliche Unterschiede dürfen nicht dazu mißbraucht werden, dem Leben der Reichen einen Mehrwert gegenüber dem der Armen zuzuerkennen.8 In der Beziehung zu den sozial Schwachen wurde die Gottesbeziehung konkret, so forderten die Weisheitslehrer immer wieder zu sozialer Solidarität auf. So wurde der Schöpfungsglaube der W auch zu einem Kapitel gesellschaftskritischer, politischer Theologie, in der "Schöpfung" und "Gesellschaft" bzw. "Geschichte" unter der für Glauben und Geschichte Israels zentralen Perspektive der Befreiung (Exoduserfahrung) zusammen gedacht wurden.
Ursprünglich wohnten W und Wissenschaft eng beieinander (s.o.). Die Gesellschaft und Leben heute weithin bestimmende Wissenschaft stößt dort an ihre Grenzen, wo es nicht mehr nur um Forschung, Wissen und deren Anwendung geht, sondern um ethische Fragen des Sollens, Dürfens und Wollens, der Gerechtigkeit, der Bewahrung des Lebens und des Friedens geht: "Wird das sich in unvorstellbarem Maße, mit atemberaubender Schnelligkeit anhäufende Wissen um die Struktur und Kräfte unserer Welt zum Glück oder zum Unglück, zur Befreiung oder zur Versklavung der Menschen beitragen?9 " Hier kann die W, die Wissenschaft achtet und nicht (!) von Wissenschaftsfeindlichkeit sich bestimmt weiß, Richtungen des Nachdenkens anzeigen durch ihre Gegenwartsverbundenheit, durch ihre Nähe zu Leben und Menschen, durch ihre ethischen und kritischen Hinweise, durch ihr Sensiblisieren für den Alltag und die Bedürfnisse der Menschen – und sie kann die Notwendigkeit von Unterbrechung signalisieren, um die Frage nach dem Maß (hier korrespondieren hebr. W und griech. Philosophie), die Notwendigkeit einer neuen Wissenschaftsethik und das Problem der Einübung eines dem Leben angemessenen Handelns ins Bewußtsein zu heben. Wird die Welt des Produzierens von Erkenntnissen wie von Gütern zum beherrschenden Alltag, besteht zumindest die Gefahr, dass das Leben sich nach außen nur kehrt und die innere Wirklichkeit – Reflexivität, Spiritualität und eigenes Innenleben – verloren geht.10 Kritisch steht W durch ihre Struktur als Beziehungsdenken und als Beziehungen stiftendes Wissen gegenüber der cartesianischen Trennung von res cogitans und res extensa, von Subjekt und Objekt, die das neuzeitliche Wissenschaftsdenken bestimmt. Gegenüber Beobachtung, objektiver Betrachtung und Experiment will W anleiten zur Wahrnehmung; dabei ist auch wiederum eine Beobachtung alt- und mittelhochdeutscher Sprache interessant, in der "wahr" die Bedeutung hatte, einer Person oder Sache "in Treue verbunden sein": Wer etwas wahrnimmt, ist diesem in Treue zugetan, geht eine Beziehung ein, die auf Bewährung aus ist (die ‚alte‘ Biologie als Naturkunde wußte davon). Die W, die das Leben will, stellt den Menschen in geglückte und glückende Beziehungen. Schließlich ein weiterer Gesichtspunkt, auf den W aufmerksam machen kann: Die Mehrheit der Nichtwissenschaftler und Nichtwissenschaftlerinnen muss die Konsequenzen der Wissenschaft tragen; es läßt sich aber beobachten, dass eine Verständigung zwischen dieser Mehrheit und den Wissenschaften immer weniger gelingt: Das Auseinandertrifften der Wissenschaftssprachen führt mitunter zu einem gefährlichen Verlust an innergesellschaftlicher Verständigungsmöglichkeit. Wenn es aber um Sprache nicht nur als Instrument der Benennung, sondern als Möglichkeit der Verständigung geht, dann läßt sich von der W und ihrem Versuch, Wirklichkeit zu ‚dolmetschen‘, lernen.