AG "Theologische Grundlagen"

Tora und Ethik

Franz Segbers


Weisungen der Tora
Nur zu lange hat eine an der reformatorischen Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium eine sachgemäße biblische Wahrnehmung des in der biblischen Gesetzesüberlieferung ausgedrückten Willens Gottes verstellt. Der Gott der einen Bibel ist kein Gott, der die Menschen durch die Forderungen seines Gesetzes bedrängt oder in Verzweiflung treibt. Der jüdische Philosoph Martin Buber übersetzt das hebräische Wort Tora für das, was christliche Bibelübersetzungen „Gesetz“ nennen zu Recht deshalb auch mit Weisung. Es geht in der Tora um die Weisung des einen Willens Gottes zu einem guten und gelungenen Leben. Sie stehen deshalb nicht in einem Gegensatz zur befreienden Botschaft des Evangeliums. „Wer sie einhält, wird durch sie leben“ (Lev 18, 5).

Denn wenn von Gesetz die Rede ist, dann sei der biblische Bedeutungsgehalt eher verstellt und verdunkelt. Die Werke des Gesetzes, Taten des Menschen verweisen nämlich nicht auf eine menschliche Leistung, die der Mensch sich zurechnen könnte. Es geht nicht um Leistung, nicht um Werke, nicht um eine den Menschen bedrückende Pflicht, nicht um einen ethischen Imperativ - sondern es geht um Gottes Weisungen zu einem guten Leben und gerechten Leben. Diese Weisungen sind Hilfen zu einem gelungenen Leben. Deshalb verweisen sie nicht auf die Tat des Menschen, sondern auf Gottes Güte und Gerechtigkeit. Bonhoeffer sagt dies so: „Nicht einem Gesetz, sondern Gott gehorchen wir in den Zehn Geboten, und nicht an einem Gesetz, sondern an Gott scheitern wir, wenn wir sie übertreten.“

Die Bibel enthält also eine Weisung, welche die Antwort auf die Frage vorlegen: Wie können wir miteinander und vor Gott gut und gerecht leben?

Die Tora will Leben fördern. Deshalb hält sie an, überall dort in die Gesellschaft und die Ökonomie einzugreifen, wo Leben behindert wird. Die Tora ist dem aus der Sklaverei entkommenen Volk Israel gegeben. Es soll eine Gesellschaft aufbauen, in der Recht und Gerechtigkeit herrschen. Gerade die Schwachen und Armen sind auf Recht und Gerechtigkeit angewiesen. Von Jean Jacques Rousseau stammt der Satz, der das Grundanliegen der Tora gut verdeutlichen kann:
„Zwischen dem Starken und dem Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.“ Die Freiheit aus Ägypten reicht nicht aus, um in Gerechtigkeit und Freiheit leben zu können.

Glaube, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit: Die gute Weisung Gottes
Die Tora verknüpft drei unterschiedliche Themen miteinander. Sie enthält Regeln über den Kult, den Gottesdienst, genauer muss man sagen: über die Verehrung des einen Gottes. Zweitens enthalten sie Regeln der Gerechtigkeit, also regeln darüber, wie Menschen sich verhalten sollen, damit sie sich wechselseitig als gleiche anerkennen. Und drittens enthalten sie Regeln der Barmherzigkeit. Gemeint ist nicht die Aufforderung, gelegentlich oder unerwartet oder unerwartbar Menschen hilfreich zu sein, die in Not geraten sind; sondern gemeint ist eine Barmherzigkeit, die für den Glaubenden verpflichtend ist.
Die verpflichtende Barmherzigkeit wendet sich denjenigen zu, die an den Rand gedrängt sind, aus der Sicherheit des Gesetzes herausgefallen sind oder von dem abgeschnitten sind, was sie für Ihr Leben notwendig benötigen. Barmherzigkeit gehört zu den Weisungen zu Gerechtigkeit. Indem das Barmherzigkeit zum Inhalt der Weisungen der Tora wird, soll es dem nur zufälligen oder beliebigen Verhalten entzogen werden. Barmherzigkeit soll sicher erwartbar sein. Dabei werden die Armen und Schwachen nicht als unmündige Hilfeempfänger angesehen. Vielmehr sind sie Rechtsträger. Sie haben einen Anspruch auf eine Barmherzigkeit, die auf Gerechtigkeit drängt. Diese Gerechtigkeit zeigt sich darin, dass denen, die an den Rand gedrängt sind, ein Recht auf Teilhabe an sozialen, ökonomischen und rechtlichen Möglichkeiten der Gesellschaft eingeräumt wird.

Glaube, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Recht und Erbarmen bilden eine untrennbare Einheit. Die Bibel macht deutlich: Der, der sich der Geringen und Armen erbarmt, der Witwen und Waisen, Fremdlingen und Entrechteten zum Recht verhilft, der ist der einzige und wahre Gott. Doch Götzen sind die, die Unheil stiften und Ungerechtigkeit religiös überhöhen (Ps 82).

Diese Trias von Barmherzigkeit, Recht und Glaube durchzieht die ganze biblische Tradition. Jesus benennt den Kern der Tora: das Wichtigste ist Recht, Barmherzigkeit und Glaube (Mt 23,23). Diese drei Aspekte gehören auch neutestamentlich zusammen.
Die Lebensweisung der Tora ist deshalb ein Evangelium des Glaubens, in dem drei Grundthemen verbunden sind:
die Verehrung des einen Gottes, die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit.

Gerechtigkeit ist ein roter Faden, der sich durch die ganze biblische Tradition hindurchzieht. Doch diese Gerechtigkeit ist eng mit der Verehrung Gottes verbinden. Gott zu verehren und die ökonomisch wie rechtlich oder soziale schwachen Glieder einer Gesellschaft zu schützen und zu ihrem recht zu verhelfen, gehören unauflöslich zusammen. Das macht den Kern der Tora aus: Der Name Gottes ist Gerechtigkeit. Ohne Gerechtigkeit gibt es nach biblischem Verständnis keine Verehrung Gottes.

Die biblischen Weisungen zu einem guten und gerechten Leben sind nicht ein für alle mal fixiert. Sie sind zu hören unter verschiedene umständen und in ganz neuen Situationen als je neue Weisung Gottes, die ihrem bleibenden Kern treu bleiben.

Gerechtigkeit
Was gemeinhin unter Gerechtigkeit verstanden wird, unterscheidet sich vom biblischen Verständnis. Was im Deutschen mit „Gerechtigkeit” gemeint ist, sei - so einer der bedeutendsten Theologen des Alten Testaments, Gerhard von Rad, - „nicht nur eine sehr unzulängliche, sondern oft eine geradezu irreführende Wiedergabe des Hebräischen sedaka.” Gemeint ist ein gerechter, richtiger Zustand, ein rechtes, rechtschaffenes Handeln, ein rechtschaffener, aufrechter Charakter.
Insgesamt geht es um ausgeglichene, wohltuend geordnete, lebensfreundliche Verhältnisse:
Im menschlichen Zusammenleben wie in den Gottesbeziehungen. Wenn die Bibel von Gerechtigkeit spricht, dann ist gemeint, dass die Lebensrechte der Mitmenschen, besonders der Schwachen, in Kraft gesetzt werden sollen. Dies geschieht nicht durch individuelle Haltungen allein; dem in Not geratenen Mitmenschen sich in Erbarmen zuzuwenden reicht nicht aus. Die Tora macht ihn zu einem Träger von Rechtsansprüchen. Ein Blick von oben, mag er auch noch so voller Erbarmen sein, kann die Würde dessen, der Hilfe bedarf, verletzen. Deshalb muss Erbarmen zu einer Sache eines Rechts werden, das erwartbare Solidarität formuliert.

Wie lässt sich die Weisung leben, das „Gesetz erfüllen“ (M 5,17)?
Die Weisungen halten an, Recht aufzurichten, Barmherzigkeit zu leben und an den einen Gott zu glauben. Dadurch wird gutes und gerechtes Leben gefördert. Diese Förderung des Lebens ist ein inneres Kriterium der Tora.
Zu fragen ist also immer wieder:
Wird Leben gefördert oder wird Leben gar behindert?
Wer fördert?
Wer behindert?
Wie?
Keine Ordnung ist davor gefeit, missbraucht zu werden oder zu erstarren.
Die Lebensordnungen, zu denen Gott einlädt, können auch missbraucht werden.
Sie wären missverstanden, wenn sie starr und Leben verhindernd wie ein absolutes Gesetz den Menschen auferlegt würden. Deshalb ist auch nicht belegt, dass die biblische Gerechtigkeit strafend auftritt. Das wäre ein Widerspruch in sich, wie Gerhard von Rad sagt.

Dynamisches Ringen
Wie sehr die Weisungen dynamisch verstehen sind, belegen die zahlreichen Auseinandersetzungen Jesu um den Sabbat. Dabei geht es nicht um die Geltung des Sabbats selber, sondern um die rechte Praxis. Doch diese muss den sich wandelnden Zeiten angepasst werden. Dabei wird der Grundgehalt fortgeschrieben und aktualisiert in einem geschichtlichen Prinzip, der sog. „mündlichen Tora”, die selbst Offenbarungsqualität beansprucht. Damit die Festschreibung des göttlichen Willens nicht in Erstarrung führt, bedarf es einer Ergänzung durch eine weitergehende innovative Gottesrede. Gott spricht immer wieder durch Mose zu allen Generationen.
Eine talmudische Legende bringt dieses dynamische Prinzip der Tora gut zum Ausdruck:
Mose kommt in das Lehrhaus des Rabbi Akiba, setzt sich in die achte Reihe und - versteht nichts.

Als Jesus sein öffentliches Leben beginnt, beruft er sich auf nichts anderes als auf diesen schon den Vorfahren vorgezeichneten Weg. Seine Predigt legt die Tora aus.
Bei seinem ersten Auftritt in der Synagoge in Nazareth stellt er sich ausdrücklich in die Tradition der Hebräischen Bibel und spricht mit Jesaja von einem „Gnadenjahr des Herrn“(Lk 4,19).
Die Tora und die Propheten hatte das Gnadenjahr angekündigt: das Jahr, in dem die Schulden erlassen werden.
Ein Jahr, in dem die Grundlage für gerechte und lebensfreundliche Beziehungen der Menschen untereinander neu gelegt werden. Die Dinge des Lebens kommen wieder ins Lot und werden wieder so hergestellt, dass ein neuer Anfang möglich wird.

Weisung konkret
Die Tora enthält Weisungen für den gerechten Umgang mit den Gütern der Schöpfung. Wo Ökonomie zu Ausbeutung oder Ungerechtigkeit führt, durchbricht die Weisung Gottes die Gesetze der Ökonomie.. Im Zentrum der biblischen Ökonomie steht der Sabbat. Um sieben Tage zu leben, sind sechs Tage Arbeit genug, lautet dass Befreiungsprogramm der Sabbat-Ökonomie: Der Sabbat befreit den arbeitenden Menschen(Ex 20,8ff.),
die Ackerbrache des Sabbatjahres befreit den Boden von ununterbrochener Ausnutzung(Ex 23,10ff.),
der Schuldenerlass im Sabbatjahr die Wirtschaft von den Zwängen des Geldes (Dtn 15,1ff.),
die Rückerstattung des akkumulierten Reichtums im Jobeljahr von der Abhängigkeit von Besitz an Grund und Boden (Lev 25).

Der Freiheitsimpuls der Sabbat-Ökonomie bezieht sich also auf den abhängig Arbeitenden, den Schuldner und den Grundbesitz. Der Sabbat begrenzt das ökonomische System und kann so eine Logik der Humanität gegen die Dominanz ökonomischer Interessen durchsetzen.

Das biblische Zinsverbot enthält die immer und überall geltende Logik der barmherzigen Humanität: Wer in Not ist, dem soll geholfen werden (Ex 22,24; Dtn 23,20; Lev 25,35).
Diese Hilfe kann durch ein Darlehen erfolgen. Wird aber auf das Darlehen Zins verlangt, so wird die Not des Nächsten für die Vermehrung des eigenen Wohlstandes ausgenützt. Wer Zinsen nimmt, nützt die Notlage des anderen aus und zerstört dessen Leben. Deshalb ist Zins nicht lebensförderlich, sondern lebenszerstörend.

Die Weisungen der Bibel lassen sich nicht unmittelbar in die heutige ökonomische Wirklichkeit übertragen, jedoch deren Logik der barmherzigen Humanität, die in das folgende Kriterium gefasst werden kann:
Ökonomische Funktionsprinzipen müssen so ausgestaltet sein, dass sie dem Leben dienen.
Wer die Tora hält, vermehrt Leben. Die Tora lehrt eine Lebenskunst, die alles am Ziel der Lebensdienlichkeit, besonders der Schwachen und Kleingehaltenen orientiert.