Berliner Aufruf
ökumenischer
Basisgruppen
und Initiativen
1
,,Eine andere Welt ist möglich!"
Berliner Aufruf
Ökumenischer Basisgruppen
Im Rahmen des Ökumenischen Prozesses für Gerechtigkeit,
Frieden und Bewahrung der Schöpfung
Ökumenischer Kirchentag Berlin 2003
Mai 2003
2
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
3
Aufruf ,,Eine andere Welt ist möglich"
4
Thesen und Texte zu den Erkenntnissen und Anliegen des Berliner Aufrufes
I.
Ursachen der Krisenentwicklung unserer Zeit ­
Notwendige Richtungsänderungen
9
II.
Der Grund unserer Hoffnung
15
III.
Veränderungen fangen bei uns selbst an ­
18
Unsere Eigenverantwortung für Zukunftsfähigkeit
IV.
Mögliche und nötige Veränderungen der wirtschaftlichen,
20
gesellschaftlichen und politischen Strukturen
V.
Überwindung des Krieges: Nachhaltiger Frieden ­ der notwendige
25
Paradigmenwechsel in der Friedenspolitik und in der Friedensarbeit
VI.
Aufbruch der Zivilgesellschaft ­ sich in Bündnissen zusammenschließen 35
Aufruf ,,Aufbruch - anders besser leben"
35
Aufruf Ökumenischer Bekenntnisprozess ,,Wirtschaft im Dienst des Lebens"
43
Erd-Charta Präambel
46
Infos und Adressen zu Initiativen und Bewegungen
47
Geplante Projekte
48
Ökumenische Netze in Deutschland
48
3
Vorwort
Im Jahr 13 nach der friedlichen Revolution in Mittel- und Osteuropa befindet sich die Weltgemeinschaft und die Demokratie in einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise. Der Nord-Süd-Konflikt wird immer brisanter. Neue Kriege werden Tagespolitik. Klimaveränderungen werden hingenommen. Zugleich wächst die Überzeugung, dass im 21. Jahrhundert Krieg nicht mehr sein darf, der weltweite Hunger überwunden werden muss, Arbeit zur Würde des Menschen gehört und wir den kommenden Generationen eine intakte Umwelt zu übergeben haben.
Die Kirchen haben in ihrem ,,Konziliaren Prozess gegenseitiger Verpflichtung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" schon in den 80er Jahren die wichtigsten Prämissen für eine zukunftsfähige Welt angesagt. Auf der Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio haben sich die führenden Industrienationen zu einer auf ,,Nachhaltigkeit" hin orientierten Wirtschafts- und Lebensweise bekannt, dem sog. Rio-Prozess. Beide Prozesse fließen auch in vielen Initiativen der Lokalen Agenda 21 zusammen.
Hinzu kommen heute neue Protest- und Aufbruchsbewegungen wie Attac, die Erd-Charta-Bewegung oder die neue Lebensstil-bewegung ,,Aufbruch ­ anders besser leben" und andere.
Was weitgehend fehlt, ist die klare Herausarbeitung neuer wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer nachhaltiger Strukturen der Realpolitik, ihre ethische Grundlegung und die Bündelung der alternativen Kräfte. Unsere Bewegungen sollen zu einer ,,neuen Realpolitik" und gesellschaftlichen Realität führen.
Engagierte Mitglieder Ökumenischer Netze, Basisgruppen und Initiativen in Deutschland haben in den letzen Jahren in verschiedenen Arbeitsgruppen an zentralen Fragen für eine nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft gearbeitet.
Der zum Kirchentag 2003 veröffentlichte Berliner Aufruf Ökumenischer Basisgruppen ,,Eine andere Welt ist möglich" sagt deutlich, womit wir uns in unserer Welt nicht abfinden und auf welche ,,andere Welt" wir hinwirken wollen. Er formuliert die wichtigsten Prämissen für eine grundlegende Veränderung politischer und wirtschaftlicher Strukturen. Vor allem will der Berliner Aufruf Einzelne, Gruppen, Bewegungen und Kirchen aufrufen, sich zu einem Bündnis für eine zukunftsfähige Entwicklung unserer Gesellschaft zusammenzuschließen.
In dem hier vorgelegten Berliner Aufruf veröffentlichen wir erläuternde Thesen und Texte zu den einzelnen Passagen des Aufrufes. Diese Texte sind in verschiedenen Arbeitsgruppen entstanden, die vom Koordinationskreis Ökumenischer Netze und Basisgruppen organisiert wurden. Darüber hinaus drucken wir in diesem Heft auch den Aufruf einer dieser Arbeitsgruppen ,,Aufbruch ­ anders besser leben" ab, der vor allem an der Änderung der eigenen Wertevorstellung und Lebensweise ansetzt. Und wir geben ebenso wieder den von Kairos Europa initiierten Aufruf Ökumenischer Bekenntnisprozess ,,Wirtschaft im Dienst des Lebens", der die Kirchen auffordert, einen verbindlichen Bekenntnis- und Aktionsprozess gegen wirtschaftliche Ungerechtigkeit und Naturzerstörung einzuleiten.
Durch das Zusammenwirken dieser drei Aufrufe ­ einmal auf der politischen Ebene, zum anderen auf der Ebene der persönlichen Lebensweise und zum dritten in den Herausforderungen der Kirchen ­ kann eine aufbrechende Bewegung in unserem Land entstehen.
Alle, die daran teilnehmen wollen, sind eingeladen, sich dieser Bewegung anzuschließen. Darum machen wir im letzten Teil des Heftes Infos und Adressen zu Initiativen und Bewegungen bekannt. Mit diesem Arbeitsheft hoffen wir auch über den Kirchentag hinaus einen Impuls für Gruppen zu geben.
Wir tragen die Hoffnung in uns, die Vision von einer gerechten, friedlichen und umweltfreundlichen
Erde nicht vergeblich zu träumen.
Redaktion und
Koordinationskreis Ökumenischer Netze, Basisgruppen und Initiativen, Berlin
4
,,Eine andere Welt ist möglich"
Berliner Aufruf Ökumenischer Basisgruppen
zum Kirchentag 2003
5
6
7
8
9
Thesen und Texte
zu den Erkenntnissen und Anliegen des Berliner Aufrufes
I. Ursachen der Krisenentwicklung unserer Zeit ­
Notwendige Richtungsänderungen
In seiner Schrift ,,Die Zeit drängt"
1
vertrat und begründete C.F. v. Weizsäcker die These: ,,Die Menschheit befindet sich in einer Krise, deren katastrophaler Höhepunkt wahrscheinlich noch vor uns liegt." Im Punkt (1) des ,,Berliner Aufrufs Ökumenischer Basisgruppen und Initiativen" wird das heutige Gesicht der Krise in wenigen Punkten umrissen. Es ist geprägt durch die weltweit zunehmende Ungerechtigkeit und das Sichtbarwerden globaler ökologischer Folgen. Der Terroranschlag vom 11. Sept. 2001 und der völkerrechtswidrige dritte Golfkrieg um knapp werdendes Öl sind deutliche Anzeichen. Deshalb ist es dringend erforderlich, nach den tieferen Ursachen der Krisenentwicklung zu fragen und Auswege daraus abzuleiten, die mehr sind als das Kurieren an den Symptomen. Die folgende Thesenreihe versucht, dies zu tun. Die gegenwärtige Situation ist gekennzeichnet durch die neoliberale Globalisierung mit ihren Rückwirkungen auf die nationalen gesellschaftlichen Verhältnisse, die ­ wie uns gewichtige Stimmen sagen ­ zu einer ,,Verabsolutierung des Marktes" führt, ja, daß sich dieser ,,zum Herrscher über unsere Gesellschaft aufschwingt"
2
. Das bedeutet u.a., daß das ,,Ende des Politischen" absehbar ist, denn ,,Politik löst sich auf in Technologie und Ökonomie. Der Sozialstaat, diese letzte Bastion politischer Ideologie, ist nicht mehr finanzierbar"
3
. Diese Prognose ernst zu nehmen heißt nicht, sie als unabänderlich hinzunehmen. Es muß darum gerungen werden, daß sie nicht eintritt.
1. Die Kommerzialisierung der Gesellschaft und der Verlust des Primats der Politik
1.
Mit der ,,Verabsolutierung des Marktes" ist ein Vordringen marktförmiger, also geldvermittelter
Austauschbeziehungen in nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gemeint. Die vielfältig zu beobachtende Individualisierung und Entsolidarisierung der Gesellschaft führt zur Umwandlung menschlicher Beziehungen in Dienstleistungen und damit in Kauf- bzw. Verkaufsbeziehungen. Damit geht die Auflösung so ziemlich aller Formen von Selbstversorgung (Subsistenz) einher, so dass eine totale Abhängigkeit vom Geld eingetreten ist. Längst schon sind ­ außer Luft und Sonnenlicht ­ nahezu alle äußeren Lebensgrundlagen (Grund und Boden, Bodenschätze, Verkehrs- und Kommunikations-Infrastruktur, Sendefrequenzen etc.) privatisiert bzw. privat lizenziert worden. Gegenwärtig ist die Privatisierung der Wasserversorgung im Gange. Nun aber greift die Parzellierung und Privatisierung sogar auf das Leben selbst über (These 7, Seite 13) und macht auch vor menschlichem Leben nicht halt (These 8, Seite 13). So werden nahezu alle Lebensgrundlagen in handelbare Warenform zur Vermehrung des geldwerten Eigentums privater Besitzer überführt.
Die Privatisierung staatlicher Aufgaben wird forciert. Zur Zeit steht die höhere Bildung auf dem Programm. Hochschulen sollen sich als Unternehmen verstehen, strukturieren und auf dem Bildungsmarkt anbieten. Studiengebühren sollen eingeführt, kommerzielle Extra-Angebote gemacht und private Sponsoren gesucht werden. Ähnliche Erscheinungen gibt es längst auch im Gesundheitswesen.
Private Sicherheitsdienste übernehmen mehr und mehr polizeiliche Aufgaben. In den USA geht man dazu über, selbst den Strafvollzug zu privatisieren. Staatliche Geheimdienste übernehmen klammheimlich Aufgaben der Wirtschaftsspionage.
Die um sich greifende Vermarktungstendenz wird exemplarisch und besonders deutlich im medizinischen und pflegerischen Bereich der Kranken- und Altenfürsorge. Der gerade in diesen Lebensphasen auf eine personale Begegnung angewiesene Mensch wird kleinteilig und protokollarisch in Abrechnungsvorgänge zerlegt mit der Folge, daß das medizinische und Pflegepersonal eine ganzheitliche Begegnung mit dem bedürftigen Menschen nicht mehr leisten kann.



Anmerkungen siehe Seite 16
10
2.
Zugleich vollzieht sich ein schleichender Machtwechsel, der als Verlust des Primats der Politik
beschrieben wird. Das ,,Ende des Politischen" ­ das wäre das Ende der Demokratie zumindest als der entscheidenden Form der Selbstgestaltung und Selbstbestimmung der Gesellschaft. Eine Vorherrschaft von Technologie und Ökonomie muß als Fremdbestimmung erkannt werden, die vom keineswegs demokratischen Markt vermittelt wird, auf dem nämlich ,,ein Dollar eine Stimme" und nicht ,,ein Mensch eine Stimme" gilt.
Hat sich die Ökumenische Versammlung der DDR 1989 gegen die totalitäre Verstaatlichung der Gesellschaft durch das SED-Regime gewandt, so wenden sich die Ökumenischen Netze und Basisgruppen im Konziliaren Prozeß heute gegen die um sich greifende Vermarktung der Gesellschaft. Sie nimmt ebenfalls totalitäre Züge an. Es ist dies ein ,,Totalitarismus neuer Art"
4
.
Der bisher nur für politisch-ideologische Herrschaft gebrauchte Begriff Totalitarismus ist anwendbar, denn er bedeutet wesentlich, daß tendenziell alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens fremdbestimmten Verhältnissen untergeordnet werden, um dadurch Herrschaftsverhältnisse zu etablieren. Diesen Totalitarismus des Marktes nennen wir Mammonismus
5
.
3.
Herrschaftsverhältnisse entwickeln sich daraus, weil Geld mehr ist als ein neutrales Austausch-
mittel, denn es hat einen strukturellen Vorteil gegenüber den Waren, deren Wertäquivalent es eigentlich sein soll: Es altert nicht und kann daher als ,,Liquidität" zurückgehalten werden, so daß es sich nur gegen einen Aufpreis (Zins, Dividende, Rendite) zur Verfügung stellt. So wird Geld selbstbezüglich und gegen weiteres Geld gewinnbringend vermarktet: Wer viel hat, dem wird leistungslos gegeben proportional zu dem, was er schon hat. Genommen wird dies durch Zins- und Renditeanteile in allen Preisen, Mieten, Steuern und Abgaben von den vielen, die wenig haben. So findet eine automatisierte und verschleierte Umverteilung von Arm zu Reich statt, so daß die Macht insbesondere des Geldeigentums unablässig wächst.
Die exponentiell wachsenden Vermögen der einen sind die ebenso wachsenden Schulden der anderen. Vermögen und Verschuldung hatten im Jahr 2000 in Deutschland bereits die astronomische Höhe von 12'020 Mrd. DM erreicht. Daran war die öffentliche Hand in Bund, Ländern und Gemeinden, d.h. der Steuerzahler, mit 2'410 Mrd. DM beteiligt. Das sind 30'000 DM pro Kopf der Bevölkerung. Diese Schuldenlast kann offenbar nicht mehr abgetragen werden, sondern muß durch eine jährliche Neuverschuldung bedient werden. Die durch die geltende Geld- und Eigentumsordnung bewirkte Verarmung betrifft also nicht nur die Armen in wachsender Zahl, sondern auch das staatliche Gemeinwesen und damit die ganze Gesellschaft.
4.
Der Zwang zur Zins- und Renditebedienung der Großvermögen zieht auch das zwanghafte
Wirtschaftswachstum nach sich, denn das systembedingte ständige Mehrwerden des Geldes muß erwirtschaftet und erarbeitet werden. So wird das Wirtschaftswachstum unweigerlich an die ,,Grenzen des Wachstums" stoßen. Eine ,,Ökonomie des Genug" ist unter diesen Umständen strukturell nicht möglich. Ein System, dessen zentrale Vermittlungs- und Steuerungsgröße in den Händen weniger exponentiell wächst, kann nicht stabil, d.h. nicht nachhaltig sein.
5.
Der wohl wesentlichste Faktor des übermächtig-Werdens des Geldkapitals gegenüber der poli-
tisch-institutionellen Macht ist heute die neoliberale Globalisierung, die zuerst und vor allem eine Globalisierung der Finanzmärkte und der Kapitalallokation ist. Damit kann sich das Kapital der national (bzw. regional: EU) bleibenden politischen Macht entziehen. Die Globalisierung des Finanzkapitals führt somit zur Aufhebung der Gemeinwohlbindung des (Geld-) Eigentums.
6.
Vom sonstigen Funktionsverlust staatlich verfaßter Politik bleiben bestimmte Aufgaben innerer
und äußerer Sicherheit vorerst unberührt. Es sind dies polizeiliche, militärische und geheimdienstliche Funktionen, die im öffentlichen und auch im Interesse der ökonomischen Macht liegen, demokratischer Partizipation und Kontrolle aber am wenigsten offen stehen.
Sie sollen im weltweiten, von US-Präsident Bush erklärten ,,Krieg gegen den Terrorismus" erheblich verstärkt und verschärft und auch international unter amerikanischem Kommando ohne klare Rechtsbindung eingesetzt werden, um die bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu stabilisieren. Diese aber sind wegen ihrer Ungerechtigkeit ein Nährboden für das, was bekämpft werden soll, nämlich Fundamentalismus und Terrorismus.
Nach dem Ende des noch vorwiegend politischen Ost-West-Konflikts, wurde die NATO umfunktioniert, um der Stabilisierung der ,,neuen Weltordnung" der ökonomischen Hegemonie des Westens dienen zu können. Das ursprünglich rein defensiv gestaltete Bündnis sollte nun in quasi-weltpolizeilicher Funktion diese ,,neue Weltordnung", die man WTO-Ordnung nennen kann, garantieren.
11
Inzwischen zeigt sich aber, daß selbst deren geänderte multilaterale Vertrags- und Rechtsbindung dieser Aufgabe eher hinderlich ist, so daß die USA sie zunehmend unilateral da an sich ziehen, wo es um ihre Hegemonialinteressen geht. Dabei scheuen die USA vor dem Bruch des Völkerrechts nicht zurück, wie ihr Angriffskrieg gegen den Irak im Jahre 2003 zeigt. Die NATO hat damit dramatisch an Bedeutung verloren. Diese selbst gestellte ,,weltpolizeiliche" Aufgabe aber soll mit oder ohne NATO mit unverhältnismäßigen und z.T. sogar ungeeigneten Mitteln erfüllt werden, nämlich mit erdrückender hoch-technologischer militärischer Übermacht, die noch immer bis zur nuklearen Erstschlagsoption reicht. So schreibt Thomas Friedman, Assistent der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright:
,,Damit die Globalisierung funkioniert, dürfen die Vereinigten Staaten nicht zögern, als die unbesiegbare Weltmacht zu agieren, die sie sind. Die unsichtbare Hand des Marktes funktioniert nicht ohne die sichtbare Faust. McDonalds kann nicht prosperieren ohne McDonnel Douglas, Fabrikant der Kampfflieger F15. Die sichtbare Faust sichert auf der ganzen Welt den Sieg der Technologieprodukte aus dem Silicon Valley. Die Faust sind die Landstreitkräfte, die Marine, die Luftwaffe und das Marinekorps der Vereinigten Staaten."
6
Auch dies ist letzten Endes eine Indienstnahme staatlicher Macht zum Schutz der globalen Ansprüche des Geldkapitals.
7.
Voraussetzung dafür, daß auch biologische Grundlagen des Lebens in handelbares privates
Eigentum überführt werden können, ist die Verdinglichung des biosphärischen Lebens durch eine objektivistisch vereinseitigte Biologie ­ life science genannt ­, die suggeriert, das Leben sei ,,nichts als" ein physiko-chemisches Phänomen
7
. Sie erschließt und ,,kartographiert" diese neuen Kontinente des Besitzbaren für die patentrechtliche ,,Landnahme" im Genpool der Biosphäre. Auf diese Weise wurde aus einer Wissenschaft in großem Umfang ein börsennotiertes Gewerbe.
8.
Die Verdinglichung des Lebens macht auch vor dem Menschen nicht halt. Der in der Neurobiologie
verbreitete Konsens heißt: Der Mensch sei eben doch ,,nichts als" eine biochemisch-neuroelektrische Maschine, die zu simulieren das Ziel maßgeblicher Vertreter der ,,Künstlichen Intelligenz" (KI) und der Robotik ist. In Gestalt embryonaler Stammzellen wurde menschliches Leben unmittelbar zu ,,biologischem Material" degradiert.
Nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms ist man fieberhaft dabei, die funktionelle Bedeutung der Gen-Daten zu ermitteln, um Gensequenzen patentieren zu können. Zu den Genfunktionen gehören u.a. auch ontogenetische Mechanismen, welche die Entwicklung künstlicher Uteri
8
voranbringen werden, so, wie das auch von der Forschung an embryonalen Stammzellen zu erwarten ist.
Eine Fülle von genetischen und ontogenetischen Angeboten zur Selbstbeeinflussung des Menschen nicht nur therapeutischer, sondern auch eugenischer Art wird auf den Markt kommen. Der Anfang ist gemacht. In den USA kann man bei Gametenbanken Eizellen von Models und Samenzellen von Athleten eigener Wahl kaufen, künstlich befruchten und von Leihmüttern austragen lassen. Das käufliche Kind ist da. Das menschliche Genom wird so einem neuen, marktgetriebenen Selektionsdruck ausgesetzt werden.
2. Ideologischer Hintergrund
9.
Neoliberalismus und Darwinismus gehen eine ideologische Liaison ein. Wenn also
Biotechnologie und ,,Anthropotechnik" (Sloterdijk) die beherrschenden Technologien der Zukunft sein werden, dann folgt aus der eingangs zitierten These, wonach die Demokratie als Selbstgestaltungsprinzip der Gesellschaft abgelöst wird durch den (bio)kapitalistischen Markt, daß dessen ,,unsichtbare Hand" den Menschen nach seinem Bilde gestaltet. Es ist die Hand und es ist das Bild Mammons.
10.
Obwohl es sich um einen ökonomischen und nicht um einen politischen Totalitarismus handelt,
stützt sich der Mammonismus auf einen Komplex dreier einander perfekt ergänzender Ideologien: Es bedarf keiner politischen Zwänge, um diesen Ideologien Geltung zu verschaffen, denn dies tun viel wirksamer die sogenannten Sachzwänge des Marktes, denen ­ und das ist der harte Kern der Ideologie ­ quasi-naturgesetzliche Geltung zugeschrieben wird.
So verträgt sich diese Ideologie bestens mit der postmodernen Beliebigkeit, die das Geld schließlich als
12
einzigen allgemeinverbindlichen Wert erscheinen läßt. Weil nichts mehr heilig ist, ist alles käuflich, weil
alles käuflich ist, ist nichts mehr heilig.
11.
Diese Ideologien interessieren den Käufer freilich nicht. Die Werbewirtschaft aber weiß, daß er
in einer zunehmend frustrierten Beziehungswirklichkeit unerfüllte Sehnsüchte nach Anerkennung, Geborgenheit und Sinnerfüllung hat, die zwar nicht käuflich zu erwerben sind, von denen man aber den Eindruck erwecken kann, sie seien mit den beworbenen Produkten doch zu haben.
Nach der Entzauberung ­ Verdinglichung ­ des eigentlich Wunderbaren, nämlich des Lebens, betreibt man nun die Verzauberung und Fetischisierung der Warenwelt als eine Art Religionsersatz, den man Konsumismus nennen kann. Wenn sonst kein Lebenssinn mehr zu finden ist, soll man ihn finden durch den suchtartigen Erwerb immer neuer ,,zauberhafter" Produkte: Das ist das Opium für das Volk. Dazu wird in der Thesenreihe III (,,Veränderungen fangen bei uns selbst an") mehr gesagt.
3. Dreiteilung der Welt-Gesellschaft
12.
Der globalisierte mammonistische Kapitalismus, produziert eine Dreiteilung der Gesellschaft
   a) in die Vermögenden,
   b) in diejenigen, die auskömmliche Arbeit haben und
   c) in die Armen, die beides nicht haben.

Die Dreiteilung der Welt in die wohlhabenden OECD-Länder, die Schwellenländer und die armen Länder des Südens ist deren makroökonomische Form. Dieser Zerfall der (Welt-) Gesellschaft wiederholt sich in territorialer Hinsicht auch auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene in selbstähnlicher Form als eine ,,fraktale Segregation"
9
: Armut und Verelendung finden sich mitten in den Regionen und Metropolen größten Reichtums.

13.
Daß die Schicht (c) der Armen fast überall zunimmt, hat wesentlich mit wachsender
Arbeitslosigkeit zu tun. Besonders der rasche Fortschritt und die universelle Anwendung der Informationstechnologien forcieren den Arbeitsplatzabbau. Jedoch ist gesellschaftlich notwendige Arbeit mehr als genug vorhanden, kann aber ­ etwa durch die Verarmung der öffentlichen Hand ­ immer weniger bezahlt werden, weil das sonst reichlich vorhandene Geld da fehlt, wo es gebraucht wird. Der Hauptgrund dafür ist wiederum in der wachsenden Verschuldung zu suchen (These 3, Seite 12). Die Geldströme ­ je und je vermehrt durch Zinsen und Renditen ­ werden immer stärker durch die großen Geldvermögen angesogen, von wo sie im wesentlichen nur durch den Investitionskanal in die reale Wirtschaft zurückfließen können (wenn sie es denn überhaupt tun). Investitionen, nach denen allenthalben gerufen wird, aber werden allzu oft zur Rationalisierung, also zum Abbau statt zur Schaffung von Arbeitsplätzen getätigt.
So wird Arbeitslosigkeit (besser: der Mangel an auskömmlich bezahlter Arbeit) zum Kardinalproblem auch der Industriegesellschaften des Westens. Die von den Neoliberalen als Patentrezept empfohlene Deregulierung des Arbeitmarktes, die ­ wie man meint ­ zu ,,markt-räumenden Preisen" (d.h. Hungerlöhnen) führe, löst das strukturelle Problem nicht, sondern verschärft es.
14.
Den drei Schichten der (Welt-)Gesellschaft sind die drei Sektoren der Ökonomie zugeordnet:
(1) Der globalisierte private oder auch Erste Sektor wird von den Vermögenden beherrscht. Daraus ergibt
sich ein prinzipieller Widerspruch: Das primäre Ziel der Wirtschaft in diesem Sektor ist nämlich nicht die Versorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen im gegenseitigen Austausch, wie es sein sollte, sondern die Mehrung des Eigentums der Vermögenden und der darauf beruhenden Macht. Beides stimmt oft nicht überein. Der Erste Sektor bedient nur kaufkräftige Nachfrage, die sich hauptsächlich in den Schichten (a) und (b), kaum aber in der Schicht (c) findet, und auch dies nur dann, wenn eine Mindestrendite dabei erzielt wird
10
.
(2) Der (national bleibende) Zweite, der öffentliche Sektor lebt von Steuern und Abgaben aus dem ersten Sektor, vornehmlich von dessen Beschäftigten. Er soll der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung dienen. Seine Aufgaben sind neben der öffentlichen Verwaltung das Rechts-, Gesundheits- und Bildungswesen sowie die Förderung von Wissenschaft, Kunst und Kultur. Er beschäftigt Menschen aus der Schicht (b), ist aber durch Verschuldung und Verarmung der öffentlichen Hände (These 3, Seite 12) zu einem permanenten Stellenabbau gezwungen.
13
(3) Der informelle Dritte Sektor umfaßt Haus- und Familienarbeit, Nachbarschaftshilfe, Schwarzarbeit,
graue Märkte sowie als kriminellen Anteil Diebstahl, Hehlerei, Erpressung, Prostitution, Drogenmärkte
etc. Die Armen der Schicht (c) sind, soweit Billig -Jobs und Sozialhilfe-Transfers aus dem ersten Sektor
nicht ausreichen, zunehmend auf diesen Sektor angewiesen.
4. Auswege aus der Krise
15.
Der globalisierte mammonistische Kapitalismus ist nicht nachhaltig, d.h. nicht zukunftsfähig.
Seine eigengesetzliche Dynamik, die sich zunehmend politischer Kontrolle entzieht, treibt in eine globale Destabilisierungskrise hinein. Deshalb ist es lebensnotwendig und höchste Zeit, systemische Alternativen zu finden und zu entwickeln. Aber eben weil die Politik ihre Handlungsmacht gegenüber der Wirtschaft und ihren Eigentümern verloren hat, sind radikale politische Reformen, die die Eigentums- und Geldordnung betreffen, ,,von oben" gegenwärtig kaum durchsetzbar.
16.
Jedoch ist es möglich, im Dritten Sektor der Ökonomie jenseits des globalisierten Marktes
Modelle alternativer Selbsthilfe-Ökonomie ,,von unten" zu entwickeln und zu erproben. Dies ist möglich, weil der sonst alle sozioökonomischen Innovationen erdrückende Erste Sektor an diesem Sektor wegen mangelnder Kaufkraft kein Interesse hat, so daß hier der Primat demokratischer Politik erhalten bleibt und gestalterische Spielräume hat. Selbstverständlich müssen auch solche Modelle um der Selbstbestimmung und Freiheit willen marktwirtschaftliche Züge tragen. Wichtig ist aber, daß in ihnen Mechanismen leistungsloser Selbstbereicherung vermieden werden, so daß nur eine gerechte Eigentumsbildung auf Grundeigener Arbeit möglich ist.
17.
Die Naturwissenschaft ­ eine der größten Errungenschaften der Aufklärung ­ leidet unter der
selbstgewählten Orientierungslosigkeit und läßt sich daher widerstandslos ideologisieren und instrumentalisieren. Sie bedarf dringend einer ,,Erneuerung der Aufklärung" zur Selbstbesinnung über Voraussetzungen, Grenzen und Ziele ihres Tuns
11
. Damit würde die uneingestandene Selbst-Ideologisierung der Naturwissenschaft als Objektivismus offengelegt und überwunden und so der völligen Verdinglichung des Lebens gewehrt. Gleichzeitig muß endlich methodisch und systematisch daran gearbeitet werden, Orientierungswissen
12
zu gewinnen, um mit dem für viel Geld aufgehäuften und immer tiefer in das Leben eingreifenden Verfügungswissen lebensdienlich umgehen zu können.
18.
Ein ebenso wichtiges Thema im Diskurs einer Neuen Aufklärung ist die Offenlegung der
Selbstideologisierung der ökonomischen Wissenschaft in Gestalt des Neoliberalismus (These 10, Seite 13), der die kapitalistische Marktökonomie als naturgegeben und nicht hinterfragbar ansieht und folglich deren Gesetzmäßigkeiten eine quasi naturgesetzliche Geltung zuweist. Dann würde die Diskussion von Alternativen zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem wieder möglich gemacht und nicht von vornherein als ,,Ideologie" inkriminiert werden.
(Arbeitsgruppe Gerechtigkeit, Jürgen Fischbeck)
14
Anmerkungen zum vorangegangenen Text
 
1
Carl Friedrich v. Weizsäcker, Die Zeit drängt ­ Eine Weltversammlung der Christen für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, Hanser 1986.
 
2
Hans-Jochen Vogel, zitiert in der epd-ZA Nr. 57 vom 24. März 1997.
 
3
Hans Mohr ,,Wissen ­ Prinzip und Ressource", Springer 1999, S. 2. Der US-amerikanische Management-Professor Richard Oliver meint im Blick auf das biotechnische Zeitalter: ,,Die neue Ära wird den Triumph der Wirtschaft über die Politik vollenden, der im Informationszeitalter begonnen hat. ... Es wird Kräfte entfesseln, die stärker sind als jeder Nationalismus und mehr Macht entfalten als alle Armeen der Welt zusammen." (DER SPIEGEL 26/2000, S.81)
 
4
So heißt es in dem Aufruf ,,Die Zeit ist reif" der ,,Aktion für mehr Demokratie" (www.staeck.de), den zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterschrieben haben.
 
5
Die soziale, kulturelle und (pseudo)religiöse Tiefendimension dieses Geschehens beleuchtet Carl Amery in seinem Buch ,,Global Exit - Die Kirchen und der Totale Markt", Luchterhand, 2002.
 
6
Zitiert nach Jean Ziegler, Der Terror und das Imperium, in der Zeitschrift Ossietzky vom 18.5. 2002
 
7
Im Themen-Park der EXPO 2000 war eine Darstellung des Bundesverbandes der Chemischen Industrie zu sehen unter dem Titel ,,Leben ist Chemie". Darin wurde dem Besucher mit allen Mitteln medialer Technik beigebracht: ,,Du bist Chemie". Das `nichts als' wurde zwar nicht gesagt, aber suggeriert.
 
8
Die jüngste Delphi-Studie des BMBF prognostiziert Prototypen eines künstlichen Uterus für 2020.
 
9
Von fraktaler Geometrie spricht man, wenn sich Strukturen im Großen im Kleinen und immer Kleineren selbstähnlich wiederholen.
 
10
Daß kapitalistische Marktwirtschaft schon in ihrer Grundkonzeption die Versorgung aller Menschen nicht leisten kann und will, geht klar aus einem Diktum von Friedrich von Hayek, diesem Protagonisten des Neoloberalismus, hervor: ,,Eine freie Gesellschaft benötigt moralische Grundprinzipien, die sich letztendlich darauf zusammenfassen lassen, daß sie Leben erhalten: nicht die Erhaltung allen Lebens, weil es notwendig sein kann, individuelles Leben zu opfern, um eine größere Zahl von anderem Leben zu erhalten. Deshalb sind die einzig wirklich moralischen Regeln diejenigen, die zum Lebenskalkül führen: Das Privateigentum und der Vertrag." Ein Kalkül, das meint, Menschen opfern zu müssen und zu dürfen, kann aber wahrlich nicht den Anspruch erheben, ,,Lebenskalkül" zu sein.
 
11
Hans-Jürgen Fischbeck und Jan C. Schmidt (Hrsg.), Wertorientierte Wissenschaft ­ Perspektiven einer
Erneuerung der Aufklärung, Edition Sigma, 2002.
 
12
In dem in Fußnote 11 genannten Buch ist ein Memorandum enthalten, das Vorschläge macht, wie dies erreicht werden kann.
15
II. Der Grund unserer Hoffnung
Das Reich Gottes als andere Vision vom Leben
Der Grund unserer Hoffnung (vgl. 1 Petr 3,15) liegt in der biblisch bezeugten Vision eines guten und erfüllten Lebens aller Menschen, besonders der Armen und Unterdrückten. Im Ersten Testament werden im Namen des befreienden Gottes des Exodus Regelungen zum Schutz der Schwachen erlassen. Im Zweiten Testament bezeugt Jesus von Nazaret das Reich Gottes und dessen lebensspendende Gerechtigkeit in Wort und Tat bis in den Tod am Kreuz. Das Reich Gottes ist eine säkulare und keine kultische Grösse und steht allen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit offen.
Das Reich Gottes als Fest offener Tischgemeinschaft
Das dichteste Bild für die Vision des Reiches Gottes in den Gleichnissen Jesu ist jenes vom Hochzeitsmahl, zu dem die Bösen vor den Guten erscheinen (vgl. Mt 22,1-10), und jenes vom Festmahl, dem die ursprünglich Geladenen fernbleiben, zu dem dann aber Arme, Krüppel, Blinde und Lahme und jedwede Leute von der Strasse geladen werden (vgl. Lk 14,15-24). Ein solches Fest stellt eine offene Tischgemeinschaft dar, eine ,,offene Kommensalität" (,,con" = mit und ,,mensa" = Tisch). Diese Tischordnung spiegelt nicht im Kleinen die grosse Gesellschaftsordnung mit ihren vertikalen Diskriminierungen und lateralen Trennungen wider. Das Reich Gottes als Fest offener Tischgemeinschaft meint die Vision einer solidarisch-egalitär-offenen Gesellschaft und Welt. In ihr anerkennen sich alle Menschen gegenseitig als gleichberechtigte und bedürftige Subjekte. Die Anerkennung der Bedürftigkeit bezieht sich ganzheitlich auf alles, was es zu einem Leben in Würde und Fülle an materiellen Mitteln, sozialer Anerkennung und kultureller Entfaltungsmöglichkeit braucht.
Reich Gottes als andere Vision des Lebens für diese Welt
Jede Gesellschaft muss drei Grundprobleme lösen: Zum einen muss sie das physische Leben und Überleben ihrer Mitglieder sichern, zum anderen deren Zusammenleben regeln und schließlich aufzeigen, worin ein sinnvolles Leben besteht. Dazu organisiert sie 3 gesellsch. Instanzen: ,,Ökonomie/Ökologie", ,,Politik" und ,,Kultur/Religion". Diese bilden ein komplex strukturiertes Ganzes und formieren eine Gesellschaft. Die Reich-Gottes-Botschaft und ­Praxis Jesu enthält für die Bearbeitung der drei Grundprobleme keine fertigen Rezepte, wohl aber wichtige Orientierungspunkte.
Ökonomisch: Als Reich der Bettelarmen ist das Reich Gottes die Vision einer Gesellschaft und Welt, in der niemand bangen muss ums tägliche Brot, in der alle satt werden und in der alle das an materiellen Gütern und finanziellen Mitteln erhalten, was sie zu einem ökonomisch abgesicherten Leben in Würde und Fülle brauchen. Dem Reich Gottes entspricht eine Ökonomie der Gerechtigkeit im Dienst des Lebens aller, wogegen eine Ökonomie der Bereicherung der Wenigen im Dienst des Todes und unvereinbar mit dem Reich Gottes ist.
Politisch: Als Reich der gesellschaftlichen Niemande ist das Reich Gottes die Vision einer solidarischen Gesellschaft und Welt, in der niemand verachtet, diskriminiert oder ausgeschlossen wird, in der alle Platz haben und all das an menschlicher Zuwendung, sozialer Anerkennung und vorbehaltloser Vergebung erhalten, was sie zu einem Leben in Würde und Fülle brauchen. Dem Reich Gottes entspricht eine offen-egalitär-integrierende politische Ordnung, wogegen unterdrückerisch-diskriminierend-ausgrenzende Verhältnisse unvereinbar mit dem Reich Gottes sind.
Kultur/Religion: Als Reich, das Gottes Reich ist, in dem der Wille des Vaters erfüllt wird, ist das Reich Gottes die Vision einer Gesellschaft und Welt, in der niemand von Dämonen drangsaliert wird, in der nichts und niemand an die Stelle Gottes tritt, in der das Grundgesetz der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe gilt und in der über alle weltanschaulichen Grenzen hinweg im Suchen des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit die Hoffnung auf ein sinnvolles Leben in Würde und Fülle aller Menschen praktisch bezeugt wird. Dem Reich Gottes entsprechen kulturell-religiöse Normen und Sinndeutungen, die im Dienst des Lebens stehen, wogegen religiös oder sonstwie legitimierte Verhältnisse benachteiligender, beherrschender oder bevormundender Art unvereinbar mit dem Reich Gottes sind.
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Komplexe Struktur des Reiches Gottes
Das Reich Gottes umfasst mehrere Spannungsfelder, deren Pole weder unverbunden dual nebeneinander stehen noch sich dualistisch gegenseitig ausschliessen, sondern dialektisch aufeinander bezogen sind.
Das Reich Gottes ist ebenso radikal Geschenk Gottes wie es radikal in Pflicht nimmt, sich an ihm zu orientieren.
Es ist in Jesus angebrochen und fragmentarisch in dieser Welt gegenwärtig, seine Vollendung steht als verheissene Tat Gottes aber noch aus.
Es ist von Jesus in dieser Welt bezeugt worden und seine Gerechtigkeit gilt dieser Erde, es ist aber nicht von dieser Welt.
Es hat eine persönlich-existentielle Dimension, indem es die Einzelnen zur Umkehr einlädt, es beinhaltet aber auch politisch-strukturelle Dimensionen im Sinne einer Umkehrung der Verhältnisse für ein Leben in Fülle aller Menschen.
Es war in der Verkündigung Jesu symbolisch präsent und ist es auch heute in religiöser Rede und liturgischer Feier, es soll aber in der Nachfolge Jesu praktisch bezeugt werden.
Thesen für eine Reich-Gottes-Verträglichkeitsprüfung
Das Verhältnis zwischen den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen und dem Reich Gottes ist nicht quantitativ zu bestimmen, weil dies die Illusion in sich birgt, das Reich Gottes könne bei genügender Anstrengung in einem unendlichen Progress einmal ganz verwirklicht werden. Eine qualitative Bestimmung des Verhältnisses kann in praktischer Absicht mit der Kategorie ,,Reich-Gottes-Verträglichkeitsprüfung" geschehen. Diese fragt negativ abgrenzend, ob bestimmte gesellschaftliche Strukturen und Praktiken mit dem Reich Gottes überhaupt vereinbar seien oder nicht. Diese Zuordnung von Reich Gottes und Gesellschaft geht von der Doppelstruktur des Reiches Gottes aus. Dieses enthält sowohl Kriterien für die Ausgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse wie es den eschatologisch-utopischen Horizont seiner als Tat Gottes verheissenen Vollendung meint. Das Beharren auf der Differenz zwischen ,,historischem Projekt" und ,,utopischem Horizont" im Sinn einer ,,Kritik der utopischen Vernunft" ist unabdingar notwendig. Diese Differenz hält die Zukunft nach vorne offen und verhindert, dass sich ein historisches Projekt als das Ganze (totum) und das Letzte (ultimum) ausgibt und sich so idolatrisch mit dem utopischen Horizont identifiziert. Die folgenden Thesen formulieren Kriterien, mit deren Hilfe die Reich-Gottes-Verträglichkeit konkreter gesellschaftlicher und globaler Verhältnisse überprüft werden kann.
Option für das Leben
Der fundamentalste Gegensatz ist jener zwischen Leben und Tod. Es ist unausweichlich, zwischen Leben und Tod wählen zu müssen. Das Reich Gottes ist ein Reich des Lebens. Das meint zum einen die Sorge um die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Zum andern impliziert dies die altkirchliche Lehre von der universalen Bestimmung aller Güter. Danach ist das Recht auf Privateigentum so dem Recht auf Leben aller untergeordnet, dass es keinen Anspruch auf Privateigentum gibt, solange noch ein Mensch leidet oder stirbt, weil ihm die Befriedigung der Grundbedürfnisse verweigert wird.
Eine Gesellschaft ist so weit Reich-Gottes-verträglich, als sie sich von der Option für ein Leben in Fülle aller Menschen leiten lässt.
Eine Gesellschaft und Welt, in der alle Platz haben
Der Option für ein Leben in Fülle aller Menschen entspricht das Projekt einer Gesellschaft und Welt, in der alle Platz haben und niemand ausgeschlossen wird. Ein solches Projekt orientiert sich an der Vision des Reiches Gottes als Fest offener Kommensalität. Es ist von der Überzeugung getragen, dass nicht das gute Leben einiger weniger die Unmöglichkeit zu leben vieler implizieren darf.
Eine Gesellschaft ist so weit Reich-Gottes-verträglich, als sie dem Projekt verpflichtet ist, dass in ihr alle Platz haben und niemand ausgeschlossen wird.
Gleichberechtigung der Frauen
Die Frauen sind wirtschaftlich, politisch und kulturell benachteiligt. Die Männer kontrollieren weltweit 90% des in Geld gemessenen Einkommens und 99% des in Geld gemessenen Vermögens. Die Erwerbsarbeit der Frauen wird schlechter entlohnt als jene der Männer. Ihre reproduktive Arbeit in der Familie und ihre sozialen und kulturellen Dienstleistungen werden kaum oder gar nicht entgolten.
Eine Gesellschaft ist so weit Reich-Gottes-verträglich, als in ihr die Frauen weder ökonomisch noch politisch oder kulturell benachteiligt werden, sondern die gleichen Rechte und Chancen haben wie die Männer.
17
Verzicht auf Totalisierung universaler Gesellschaftsprinzipien
Das Projekt einer Gesellschaft und Welt, in der alle Platz haben, beinhaltet den Verzicht auf die Durchsetzung universaler Gesellschaftsprinzipien etwa im Sinne einer Konzeption des ,,totalen Marktes" oder des Versuchs einer ,,vollkommenen Planung". Dieser Verzicht folgt aus dem gegenüber allen historischen Projekten anzumeldenden eschatologischen Vorbehalt. Er ist Ausdruck der Weigerung, vor der als Tat Gottes verheissenen Fülle der Zeiten das Ende der Geschichte zu proklamieren oder sonstwie die bestehenden Verhältnisse endgültig festzuschreiben und zu sanktionieren.
Eine Gesellschaft ist so weit Reich-Gottes-verträglich, als sie die Mulikulturalität fördert und ihr je historisches Projekt nicht in idolatrischer Weise mit dem Ganzen (dem Totum) und dem Letzten (dem Ultimum) identifiziert.
Primat der Politik gegen das Diktat von Sachzwängen
Angesichts der ökologisch und sozial zerstörerischen Folgen neoliberaler Deregulierungen im Namen eines utopisierten totalen Marktes im Dienst der unbeschränkten Vermehrung des Kapitals muss eine Gesellschaft wieder bereit sein, Verantwortung für die herrschenden Verhältnisse und Praktiken zu übernehmen. Die Verantwortung darf nicht an irgendwelche Mechanismen delegiert werden. An die Stelle des Primats der Ökonomie gegenüber der Politik muss der Primat der Politik gegenüber der Ökonomie treten.
Eine Gesellschaft ist so weit Reich-Gottes-verträglich, als sie bereit ist, ihre Verhältnisse und Praktiken verantwortlich zu gestalten, statt sich verantwortungslos vermeintlich unabänderlichen Sachzwängen zu unterwerfen.
Assoziativ-symmetrische Systemdynamik gegen Spaltung von Gesellschaft und Welt
Die Zwei-Drittel-Gesellschaft bzw. die Spaltung von Gesellschaft und Welt sind das Produkt einer neoliberalen De-regulierungspolitik. Gegen deren unsoziale Inklusions-Exklusions-Dynamik müsste eine Re-regulierungspolitik verfolgt werden, die sich am Wohl der Schwachen orientiert. Die gesellschaftlichen und globalen Systemdynamiken müssten daraufhin angelegt sein, assoziativ die Menschen miteinander zu verbinden, statt sie dissoziativ voneinander zu trennen. Sie müssten egalitär-symmetrische statt ungleich-asymmetrische Verhältnisse fördern und Ungleichheiten abbauen statt vertiefen.
Eine Gesellschaft ist so weit Reich-Gottes-verträglich, als sie sich nicht einer unsozialen Inklusions-Exklusions-Logik unterwirft, sondern die Dynamik der Verhältnisse und Praktiken so reguliert, dass in ihr alle Platz haben und niemand ausgeschlossen wird.
Sinnvolle Arbeit bzw. Garantiertes Mindesteinkommen für alle
Produktions- und Reproduktionsarbeit sind sowohl objektiv gesellschaftlich notwendig als auch subjektiv für die einzelnen Menschen von grosser Bedeutung. Deshalb sollten alle ein Recht auf sinnvolle Arbeit haben. Dazu muss die traditionelle Aufteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit in entgoltene Produktions- und nicht oder schlecht entlohnte Reproduktions- und Betreuungsarbeit aufgehoben und müssten insgesamt neue Zeitmodelle entwickelt werden. Jene, die nicht oder kaum arbeiten können, sollten Anrecht haben auf ein Garantiertes Mindesteinkommen. Dieses müsste so ausgestaltet und bemessen werden, dass es in einem hohen Mass gesellschaftliche Partizipation ermöglicht und nicht bloss ein Randdasein minimal finanziell absichert.
Eine Gesellschaft ist so weit-Reich-Gottes-verträglich, als sie für alle eine sinnvolle Arbeit bereitstellt bzw. allen ein Mindesteinkommen garantiert, das ein Leben in Würde ermöglicht.
(Arbeitsgruppe Theologie, Urs Eigenmann)

Einige wenige Literaturhinweise zur Reich-Gottes-Theologie:
U. Eigenmann, "Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit für die Erde." Die andere Vision vom Leben, Luzern 1998.
F. J. Hinkelammert, Der Schrei des Subjekts. Vom Welttheater des Johannesevangeliums zu den Hundejahren der
   Globalisierung, Luzern 2001.
F. J. Hinkelammert, Fülle und Knappheit. Überlegungen zu Bibel und Ökonomie, in: A. und B. Dietschy (Hg.),
   Kein Raum für Gnade? Münster-Hamburg-London 2002, 181-200.
L. Ragaz, Die Bibel - Eine Deutung. Neuauflage der siebenbändigen Originalausgabe in vier Bänden, Fribourg/Brig 1990.
J. Sobrino, Die zentrale Stellung des Reiches Gottes in der Theologie der Befreiung, in: I. Ellacuría/J. Sobrino (Hg.),
   Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung (Band 1), Luzern 1995, 461-504.
18
III. Veränderungen fangen bei uns selbst an ­
Unsere Eigenverantwortung für Zukunftsfähigkeit
1. Uns ist wichtig geworden, den konsumistischen Lebensstil in den Ländern des ,Nordens` in den
Fokus von Diagnose und Therapie der globalen Krisen zu rücken. Zwar entstehen die weltweiten, lebensbedrohenden Krisen offenbar auch aus einer Eigendynamik der neoliberalen Globalisierung. Aber der scheinbar so ,private` Verbrauch ist dabei ein Motor, und er beruht weitgehend auf der Ausbeutung der Armutsländer, der Zerstörung der Mitwelt, auf militärischer Gewalt (bis hin zu Rohstoff-Kriegen) und geht zu Lasten der Zukünftigen. Unsere Lebensweise ist also nicht nachhaltig und d.h. nicht zukunftsfähig.
2. Wir stellen fest, dass unsere konsumistische Lebensweise eine Folge des kapitalistischen
Wirtschaftssystems ist, das wie eh und je Überproduktion hervorbringt und auf permanentes (expo- nentielles) Wachstum drängt, damit möglichst viel des eingesetzten Kapitals sich maximal vermehren kann. Da in den Ländern des ,Nordens` alle normalen materiellen Bedürfnisse längst und für fast alle befriedigt sind, müssen immer absurdere Marktstrategien entwickelt werden: geplantes technisches und modisches Veralten der Produkte, Wegwerfwaren, Trend-Setting für Unnützes, Kult-Marketing (= Instrumentalisierung ethischer und religiöser Bedürfnisse). Im Kapitalismus ,müssen` wir immer mehr konsumieren ­ schon zum Erhalt der Beschäftigung! Das ist aber nicht mehr verantwortbar und auf der begrenzten Erde auf Dauer gar nicht realisierbar. Eine Diskussion um Nachhaltigkeit, die diese Wahrnehmungen meidet, bleibt an der Oberfläche der Probleme.
3. Wir machen uns bewusst, dass wir selbst, obgleich es sich beim Konsumismus um einen
gesellschaftlichen Strukturzwang (um ,strukturelle Sünde`) handelt, nicht nur ,Opfer` sind, sondern zugleich auch ,Täter` (und wären gerne auch noch ,Retter`). In unserer Selbstwahrnehmung sind wir gerade beim Konsumieren Freie, zumal wir tatsächlich bei den meisten Konsum-Entscheidungen nicht nur das Was und das Wieviel, sondern auch das Ob frei entscheiden könnten. Insofern können wir unsere Mitverantwortung nicht mit dem Hinweis bestreiten, ,die Politik` sei nicht nachhaltig. Außerdem würden wir uns mit Recht dagegen wehren, wenn eine andere, zukunftsfähige Lebensweise ,von oben` verordnet werden sollte. Diese Betonung unserer Eigenverantwortung soll nicht die Politik aus ihrer Verantwortung für die Rahmenbedingungen einer zukunftsfähigen Lebensweise entlassen.
4. Uns ist aufgefallen, dass das Konsumverhalten in den Industrieländern ­ also auch unser eigenes
Konsumieren ­ alle Symptome von Suchtverhalten hat (im Sinne von Abhängigkeit oder Co- Abhängigkeit in einem umfassenden Sucht-System). Deshalb sprechen wir in diesem Zusammenhang von Konsumismus und meinen damit eine gesellschaftliche (eher als eine individuelle) Krankheit. Dabei geht es zwar nicht um jenen Verbrauch, der der Befriedigung von Grundbedürfnissen dient; aber auch nicht bloß um auffällig zwanghaftes Kaufen oder um den Luxus-Konsum der Reichen. Im Nord- Süd-Vergleich gehören wir alle zu den Reichen, und hinsichtlich der ökologischen Auswirkungen ist manches Konsumieren selbst von Sozialhilfe-Empfängern nicht zukunftsfähig und insofern unverant- wortlich. Besonders anfällig für alle Arten von Sucht, also auch von Konsumsucht, sind Jugendliche, weil sie in ihrer Identitätssuche besonders offen sind für ,sinnstiftende` Werbung.
5. Wir erkennen, dass ­ gerade wenn die Sucht-Diagnose zutrifft ­ nicht eine Aufforderung zum Konsum-
Verzicht hilft, sondern nur das Angebot von Konsum-Befreiung. Insofern sehen wir keinen Sinn in ver- schärfter Umwelt-Ethik, in Maßhalte-Appellen oder gar Verboten. Auch wollen wir nicht alle Annehmlichkeiten des modernen Konsums asketisch oder puritanisch verteufeln. Es geht darum, bei uns allen die Einsicht in die Konsum-Abhängigkeit zu wecken, wirksame Suchtbefreiungs-Therapien anzubieten und verlockende Alternativen einer einfacheren, freieren, glücklicheren Lebensweise zu entwickeln. Es ist offensichtlich, dass dies die Dimension des durch Politik Machbaren weit überschre- itet.
6. Wir können anknüpfen an den bei vielen Menschen zunehmenden Gefühlen von Überdruss,
Betrogensein, Sinnleere, Orientierungslosigkeit und der ebenfalls ansteigenden Suche nach Alternativen zur jetzigen Lebensweise. Beide Phänomene lassen sich deuten als Symptome eines kulturellen Umbruches, der sich ja auch in den Wissenschaften und anderen gesellschaftlichen Bereichen ankündigt (Paradigmenwechsel). Systemimmanente Korrekturen werden nicht genügen;
19
es geht um eine Verstärkung jener grundlegenden kulturellen Transformation, die bereits im Gange ist. Umkehr steht an und Aufbruch ins Zukunftsfähige.
7. Wir können uns vorstellen, dass eine Theologie der Befreiung entwickelt werden kann, die auf diese
europäische Situation von Unfreiheit und Abhängigkeit bezogen ist. Wichtiger noch wäre eine Praxis der Befreiung, die sich ­ ähnlich wie in den lateinamerikanischen Basisgemeinden ­ im Alltag der aktiven Christen aus Solidarität und gegenseitiger Ermutigung und vor allem in gelebter Spiritualität entfaltet. Eine Abkehr von den materiellen Werten der jetzigen Kultur und eine neue Hinwendung zu den nicht-materiellen Quellen unseres Glaubens wäre heute die Umkehr, zu der Jesus uns ruft.
8. Wir wünschen uns deshalb, dass die Aktivitäten des Konziliaren Prozesses nicht in erster Linie nach
,oben` und nach ,außen` in Kirche und Gesellschaft gerichtet werden, sondern zunächst und vor allem an uns selbst, die noch bestehenden und neu anzuregenden Gruppen der ökumenischen Basisbewegung, an unser kirchliches Milieu im weiteren Sinne (kirchliche Publikationen, Akademien, Kirchentage). Wenn wir darüber hinaus auch die Kirchenleitungen, politischen Gruppierungen und öffentlichen Medien ansprechen können, wäre es umso besser. Eine besondere Zielgruppe sehen wir in den Jugendlichen, die gerade auch außerschulisch mit speziellen Programmen angesprochen werden sollten (z.B. Weckung ihrer Kreativität oder der Naturverbundenheit).
Es geht uns also um nichts Geringeres als um die Anstiftung einer
Konsum-Befreiungs-Bewegung
13
.
9. Wir haben deshalb eine Initiative gestartet, die unter dem Motto ,,anders besser leben ­ zukunftsfähig
mit Körper, Geist und Seele" zu einem ,,Aufbruch" in eine neue Lebensweise Anstöße geben will. Ihr Basistext (siehe Aufrufstext S. 36 ff.) spricht mit dem Teil ,,Erinnerung" nur stichwortartig an, was viele Menschen längst wissen: dass und warum wir nicht weiterleben dürfen und können wie bisher. In der ,,Entschließung" werden konkrete Handlungsmöglichkeiten genannt für die Bereiche nachhaltiges Konsumverhalten, zukunftsfähiges Sozialverhalten und ganzheitliche Geisteshaltung. Der Teil ,,Ermutigung" weist auf die vielfachen weltweiten Organisationen, Bewegungen und geistigen Umbrüche hin, die bereits im Gange sind ­ zum Teil schon seit Jahrzehnten ­ und zum Mitmachen ein- laden.
10. Ansprechen wollen wir ­ im christlichen Milieu und darüber hinaus ­ zunächst alle diejenigen, die
über die globalen Krisen informiert sind, oft in dem einen oder anderen Handlungsfeld engagiert sind (z.B. Naturschutz, Eine Welt, Menschenrechte, Frieden), denen aber für eine konsequente Änderung ihrer eigenen Lebensweise der Anstoß, die Ausdauer oder die Kraft fehlen. Unterstützen wollen wir sie durch geeignete Informationen, Materialien, Seminare (siehe www.anders-besser-leben.de). Durch regionale Vernetzung wollen wir zur Bildung von ,,Aufbruch"-Gruppen anregen, damit die vielen Aufbruch-Bereiten aus ihrer frustrierenden Vereinzelung herausfinden und so allmählich eine öffentlich wirksame neue Basisbewegung entstehen kann.
(Arbeitsgruppe Schöpfungsbewahrung, Gerhard Breidenstein)

13
(Vgl. Gerhard Breidenstein: ,,Befreiung vom Konsumismus" in: Junge Kirche 10/2000)
20
IV. Mögliche und nötige Veränderungen der wirtschaftlichen,
gesellschaftlichen und politischen Strukturen
Im Punkt (4) des ,,Berliner Aufrufs Ökumenischer Basisgruppen und Initiativen" werden eine ganze Reihe von Vorschlägen und Forderungen aufgezählt, die auf die heutige Agenda politischer Willensbildung und politischen Handelns gehören (S. 7 f). In der folgenden Thesenreihe werden sie breiter entfaltet und begründet. Dabei wird Bezug genommen auf die erste Thesenreihe ,,Ursachen der Krisenentwicklung", indem diese mit ihrer Nummer und einer römischen I davor bezeichnet werden (z.B. I.12). Diese Vorschläge und Forderungen entsprechen allgemeiner Vernunft, und wir hoffen, dass viele sie sich zu eigen machen. Da sie auch biblisch wohl begründet sind, sind sie eine besondere Herausforderung für Kirchen, Gemeinden und ihre Glieder, sich in Bündnissen politisch zu engagieren, zu denen wir in Punkt (5) des ,,Berliner Aufrufs" aufrufen (S. 8 f).
1. Verteilungsgerechtigkeit
Nord-Süd-Gerechtigkeit:
1.
Jesus Christus hat den Armen das Evangelium vom Reich Gottes als dem Reich der Gerechtigkeit
und des Friedens verkündet ­ nicht als Vertröstung auf ein ,,besseres Jenseits". (s. II, Seite 17)
Somit hat die Kirche Jesu Christi die ,,Option für die Armen" in der internationalen Politik zu vertreten. Weil die weltweit zunehmende Armut ­ wie in den Thesen I.12 und I.13 festgestellt wird ­ eine gesetzmäßige Folge des mammonistischen Kapitalismus ist, kann sich die Kirche nicht mehr beschränken auf caritative Spendensammlungen und politische Forderungen, die lediglich an den Symptomen kurieren. Die WTO, die Weltbank und der IWF sind Institutionen eben dieses im Kern ungerechten globalen Systems, von denen Gerechtigkeit nicht erwartet werden kann.
Die Heilsversprechen von Wohlstand und Entwicklung durch den ,,freien Welthandel" sind durch nichts gedeckt und klingen den Armen, denen Arbeit und Einkommen eher genommen als gegeben wird, wie Hohn in den Ohren. NRO's, die gegen die weltweite strukturelle Armut kämpfen, werden verschleiernd als ,,Globalisierungsgegner" etikettiert. Die Kirchen und ihre Gemeinden gehören hinein in den Kampf gegen die Globalisierung struktureller Armut.
Die Forderung nach Schuldenerlass für die ärmsten Länder und deren überzeugende Vertretung durch die Erlassjahr-Kampagne in den christlichen Kirchen geht in die richtige Richtung und ist ein ermutigendes Zeichen des Antimammonismus.
Geschlechtergerechtigkeit:
2.
Jesus Christus wandte sich in scharfem Gegensatz zum bis heute nicht überwundenen
patriarchalen Zeitgeist Frauen und Kindern in besonderer Weise zu. Kinder waren für ihn Zeichen und Zeugen des Reiches Gottes. Strukturelle Armut aber trifft Frauen und Kinder am schlimmsten. Wenn Kinder zum größten Armutsrisiko werden, dann steht die Zukunft der menschlichen Gesellschaft auf dem Spiel. Welch eine Herausforderung für die Kirchen und ihre Gemeinden, die zu den größten Arbeitgebern in Deutschland zählen!
Geschlechtergerechtigkeit heißt, dass Haus- und Familienarbeit gemäß ihrer lebenserhaltenden Bedeutung in gerechter Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau gewürdigt und entgolten wird. Zur Finanzierung eines solchen Familiengeldes wäre es gerechtfertigt, dazu neu zu erhebende und angemessene Nutzungsentgelte für die private Nutzung von Gemeinschaftsgütern wie Grund und Boden, Bodenschätzen und anderen Naturressourcen heranzuziehen.
Geschlechtergerechtigkeit heißt auch, daß die Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz und ihre Minderbezahlung endlich ein Ende haben müssen.
Steuergerechtigkeit:
3.
Um der fortwährenden Externalisierung ökologischer Folgekosten zu wehren und dem
Vorsorgeprinzip Geltung zu verschaffen, sollten sich die Kirchen und kirchliche Gruppen für eine Veränderung und Verschärfung des Haftungsrechts einsetzen. Fordern und unterstützen sollten sie auch die schrittweise Verlagerung der Steuerlast weg von der Arbeit hin zur Inanspruchnahme natürlicher Ressourcen. Energie- und Rohstoffverbrauch, Wassernutzung und Luftbelastung, Lärm,
21
Gesundheitsbelastung und Verkehr sind zu besteuern, anstatt das füreinander-Arbeiten steuerlich zu hemmen. Zu einem human-ökologischen Steuersystem gehören auch Bodennutzungsentgelte, wie sie in These 2 empfohlen werden, um die allen Menschen geschenkte Erde privater Spekulation und Selbstbereicherung zu entziehen.
4.
In Fortschreibung des ,,Gemeinsamen Wortes zur wirtschaftlichen und sozialen Lage" werden
sich die Kirchen, kirchlichen Gruppen und Verbände mit aller Kraft für den Erhalt des Sozialstaates in reformierter Form einsetzen, damit die Prognose von dessen Ende nicht eintritt. Dies ist auch deshalb von großer Bedeutung, weil eine ausreichende soziale Grundsicherung durch Transfer aus dem Ersten Sektor auch Vorbedingung dafür ist, daß eine soziale Gestaltung (These I.16) des Dritten Sektors (These I.14) überhaupt gelingen und zum Abbau der Arbeitslosigkeit beitragen kann, denn lokale Gemeinwesen-Ökonomien und darin erzielte Einkommen können zwar zur Grundversorgung beitragen, aber natürlich längst nicht alles liefern, was zum Lebensunterhalt erforderlich ist.
Zum Erhalt des auf Solidarität gründenden Sozialsystems wurden in Politik und Wirtschaft verschiedene Vorschläge gemacht, die in den Kirchen gewissenhaft geprüft werden müssen. Dazu gehören u.a. die Befreiung der Sozialversicherung von versicherungsfremden Leistungen, die Finanzierung des Sozialsystems aus dem Steueraufkommen aller Bürger zur Gewährung einer Grundrente für alle Bürger(innen), die angemessene Besteuerung aller Einkommensarten auch aus Mieten und Kapitalerträgen, die Ersetzung des Arbeitgeberanteils an der Sozialversicherung durch eine entsprechende Wertschöpfungsabgabe, während sich am Arbeitnehmeranteil nichts ändert.
Der letzte Vorschlag verdient besonderes Interesse, weil er verhindert, daß die Vernichtung von Arbeitsplätzen durch Automatisierung belohnt wird durch den Wegfall von Solidarleistungen. Diese gehen nämlich dem Sozialsystem gleich doppelt verloren, weil mit der Entlassung des Arbeitnehmers sowohl der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmeranteil wegfallen, während das Sozialsystem obendrein zusätzlich durch Arbeitslosengeld belastet wird.
Verteilung der Arbeit:
5.
Das Recht auf Arbeit ist eines der wichtigsten Menschenrechte, ohne das auch die anderen
Menschenrechte in Frage gestellt sind. Der Mangel an auskömmlich bezahlter Arbeit aber ist im bestehenden System zu einem nicht mehr lösbaren Problem geworden (Thesen I.13 und I.14). Mit zunehmender Arbeitslosigkeit wird die menschenrechtliche Situation immer prekärer. Sie kann entschärft werden, wenn die vorhandene Erwerbsarbeit gerechter verteilt wird, indem Überstunden abgebaut, die Regelarbeitszeit verkürzt und mehr Teilzeitarbeit eingeführt wird. Diese Forderungen sollten die Kirchen, die zu den größten Arbeitgebern in Deutschland gehören, nicht nur erheben, wie es im Wirtschafts- und Sozialwort geschah, sondern mehr als bisher selbst erfüllen.
2. Politische Regulierung und Kontrolle der Märkte
6.
Damit die Sozialstaatlichkeit in Deutschland dem sozialen Dumping der globalen
Standortkonkurrenz nicht gänzlich zum Opfer fällt, ist es erforderlich, zu internationalen Abmachungen zu kommen, die der globalisierten Wirtschaft wenigstens einige weltweit gültige Regularien auferlegt, die sie an der Steuerflucht hindert und eine gewisse Gemeinwohlbindung wiederherstellt.
Es muß nachdrücklich geltend gemacht werden, daß auch eine globalisierte Wirtschaft nicht ohne eine staatlich garantierte und öffentlich finanzierte Wohlfahrt funktionieren kann, so daß auch sie sich daran angemessen beteiligen muß, und zwar weltweit. Diese Pflicht sollte durch internationale Verträge auf der Ebene der UNO festgelegt werden.
7.
Der Kampf um den Primat der Politik ist noch nicht verloren. Er kann nur gewonnen werden,
wenn es auf UNO-Ebene zu einer Weltordnungspolitik kommt. Sie läßt sich nicht nur durch ein Mehr an multilateraler Politik realisieren, sondern vor allem durch das Zusammenwirken staatlicher und nichtstaatlicher Akteure (NROs). Schritte auf dem Weg zu einer Weltordnungspolitik wären der Abschluß Eine solche Weltordnungspolitik muß sich auf einen vereinbarten ethischen Minimalkonsens gründen, wie er mit dem Entwurf für eine Erd-Charta in den Grundzügen bereits vorliegt.
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Wesentlicher Bestandteil einer Weltordnungspolitik muß eine Weltfriedensordnung sein, wie sie in der Thesenreihe V, ,,Überwindung des Krieges ­ der notwendige Paradigmenwechsel in der Friedenspolitik", entfaltet worden ist (S. 27 ff).
Zum fairen Umgang mit der Verschuldung armer Länder sollte ein neutrales Schiedsverfahren zwischen Gläubigern und Schuldnern vereinbart werden. Ein wichtiger Schritt zu einer Weltsozialordnung, wie sie in Artikel 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte versprochen wird, wäre die gleichmäßige Erhöhung der Ausgaben der Industrienationen für Entwicklungshilfe auf die einstmals versprochenen 0,7% des Bruttosozialprodukts.
8.
Das Geschehen auf den Finanzmärkten hat sich losgelöst vom wirklichen Leben.
Die Finanzmärkte haben wirtschaftlich wie politisch ungeahnte Dimensionen erreicht. Die inzwischen nahezu uneingeschränkte Bewegungsfreiheit des Kapitals hat eine weltweite Geldmaschinerie entstehen lassen, die ihre eigene Logik jenseits der ,,realen" Ökonomie besitzt. Spekulative Finanzgeschäfte in astronomischen Größenordnungen hebeln nationale Geld-, Währungs- und Finanzpolitiken immer stärker aus und verursachen zum Teil schwerwiegende volks- wie weltwirtschaftliche Instabilitäten. Deswegen muß der Abkopplung der Finanzmärkte von der Realwirtschaft entgegengewirkt werden, denn Währungsspekulationen untergraben die Handlungsfähigkeit der Staaten. Ansatzpunkte für ein Gegenwirken gibt es mehr als genug: So wäre die Einführung einer internationalen Devisenumsatzsteuer (Tobin Tax) ein Schritt in die richtige Richtung. Außerdem gehören in den Forderungskatalog zur Regulierung des Finanzsystems die Enttabuisierung von Kapitalverkehrskontrollen, eine Beendigung der Auflagenpolitik des IWF, die verstärkte Beteiligung privater Investoren an den Kosten von Finanzkrisen und ebenso die Schließung von Steueroasen und Offshore-Finanzplätzen.
3. Biopolitik
9.
Aus dem Bekenntnis zu Gott, dem Schöpfer allen Lebens folgt für die Kirche Jesu Christi, der
fortschreitenden Verdinglichung (Thesen I.7 und I.8) und nahezu blasphemischen Entheiligung des Lebens durch die nach Patentbesitz strebende Biotechnologie entschieden zu widersprechen. Lebewesen verdienen als Geschöpfe Gottes Achtung und Respekt nach dem Maß ihrer Stellung im Gesamtzusammenhang des Lebens, diesem evolutionären Wunderwerk Gottes. Das sog. Herrschafts-gebot (Gen. 1,28) ist keine Lizenz zur Willkürherrschaft. Es ist das Mandat zu einem verantwortungs-bewußten, achtungsvollen und nachhaltig gedeihlichen Umgang mit Nutzpflanzen und -tieren.
Das widersinnig auf Lebewesen, Zellkulturen und Gensequenzen erweiterte Patentrecht aber degradiert Leben zu ,,biologischem Material" und erteilt Patentbesitzern gerade eine solche Lizenz zu transgener Willkür nicht nur über einzelne Individuen, sondern über alle ihre Nachkommen und ihr evolutionäres Schicksal.
10.
Die unantastbare Menschenwürde gründet in der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Zur
Menschenwürde gehört unabdingbar das Recht auf ,,natürliche Selbstbestimmung", d.h. das Recht auf genetische Identität und Integrität, die menschlicher Manipulation als Fremdbestimmung entzogen bleiben muß. Die Kirche Jesu Christi und mit ihr Christen in verantwortlicher Stelle müssen daher allen Versuchen entgegentreten, die menschliches Leben am Beginn und am Ende ­ da, wo es schutzlos ist ­ zahlungskräftigen Interessen Dritter ­ und seien es dringende Heilungsinteressen ­ verfügbar machen oder gar opfern wollen (These I.8).
Dies betrifft Forderungen nach Embryonen-Selektion, nach Forschung an und Verwendung von embryonalen Stammzellen und erst recht nach der Freigabe des sog. therapeutischen Klonens. Das betrifft auch fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen und die Verwendung ,,Hirntoter" zur Organentnahme ohne deren beizeiten gegebene eigene Zustimmung.
11.
Gegen die durch die Biomedizin, aber auch durch die Werbewirtschaft erzeugte Illusion, als wäre
perfektes, ewig junges und leistungsfähiges Mensch-Sein möglich, hat die Kirche Jesu Christi die Würde und damit auch die versicherungsrechtliche Gleichstellung Behinderter, leidender und genetisch mutmaßlich belasteter Menschen gegen Diskriminierungen der Versicherungswirtschaft zu verteidigen, sobald sie, wie jetzt schon in den USA, Gentests von ihren Kunden verlangt. Genetische Daten gehören mehr als alles andere zur Intimsphäre jedes Menschen und gehen außer den behandelnden Arzt niemanden etwas an. Der biomedizinisch-industrielle Komplex verdient am kranken, nicht am gesunden Menschen (These I.8).
23
Daher hat die kurative Medizin bei der Inanspruchnahme der Mittel aus der gesetzlichen Krankenversicherung ein unverantwortlich hohes und noch wachsendes Übergewicht gegenüber der präventiven Medizin. Die Kirchen und mit ihnen Christen an verantwortlicher Stelle sollten daher nachdrücklich geltend machen, daß es besser und gesamtgesellschaftlich billiger ist, Krankheiten vorzubeugen, anstatt sie immer teurer und immer technischer zu kurieren.
4. Migrationspolitik
12.
Im Zeichen der Globalisierung nehmen heute auch weltweit Flucht- und Wanderungsbewegungen
zu. Zu den Ursachen gehören Bürgerkriege, zwischenstaatliche Kriege, diktatorische, die Menschenrechte verletzende Regime, grenzenlose Armut und Hunger in den Ländern der Zweidrittel-Welt und Umweltprobleme, die den betroffenen Menschen ihre Existenzmöglichkeiten rauben. Die reichen Industrienationen reagieren auf den wachsenden Zuwanderungsdruck mit Abschottung nach außen und Repression gegenüber Migranten und Flüchtlingen nach innen. In der Bundesrepublik hatte die Ausländer- und Asylpolitik von Anfang an den Charakter der ,,Gefahren"-Abwehr. Als sich jedoch im Jahr 2000 herausstellte, daß der deutschen Wirtschaft IT-Fachkräfte fehlen, schien sich ein Umdenken anzubahnen. Der strikte Anwerbestop wurde aufgehoben, eine sog. Greencard-Regelung geschaffen und damit endlich anerkannt, daß Deutschland doch ein Einwanderungsland ist. Der inzwischen vorgelegte Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes ist aber einseitig an den ökonomischen Verwertungsinteressen der Wirtschaft und an den Zielen der inneren Sicherheit orientiert, während die Zuwanderung aus humanitären Gründen (z.B. für Flüchtlinge) weiter erschwert wird. So soll künftig zweierlei Recht gelten für die hochqualifizierten ,,besserverdienenden" Ausländer einerseits und allen übrigen andererseits.
5. Gesellschaftspolitik
13.
Die Unterordnung der Politik unter die Ansprüche der Wirtschaft (These I.2) ist auch eine Folge
von Schwächen im Institutionengefüge der Parteien-Demokratie. Zivilgesellschaftliche Kräfte, Nichtregierungsorganisationen (NRO), haben besonders auf internationaler Ebene bewiesen, daß sie Wirtschaftsmächten erfolgreich entgegentreten können
14
. Die Kirchen gehören zu den stärksten zivilgesellschaftlichen Kräften. Sie sollten daher mit solchen NRO's zusammenarbeiten, die mit den Anliegen und Zielen des Konziliaren Prozesses übereinstimmen
15
(siehe Punkt 5, Seite 8 f) des ,,Berliner Aufrufs Ökumenischer Basisgruppen und Initiativen"). Gemeinden sollten lokalen Gruppen solcher Organisationen, wenn möglich, in ihren Häusern Gastrecht gewähren.
Die institutionelle Schwäche der Parteien-Demokratie besteht darin, daß sie, obzwar gut geeignet zum Umgang mit Dissensen, kaum in der Lage ist, gesellschaftliche Konsense zu ermitteln und darzustellen, wie es gerade in kritischer Zeit nötig wäre. Daher wären institutionalisierte Foren zivilgesellschaftlicher Organisationen als politisch anerkannte gesellschaftliche Konsultative für die Politik als vierte (Nicht-)Gewalt zur Ergänzung der drei Gewalten des Staates erforderlich.
Eine gelungene konsensbildende zivilgesellschaftliche Aktion war der Konsultationsprozeß der Kirchen, der zum ,,Gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage" führte. Er sollte kein Einzelfall bleiben. Auch auf regionaler und lokaler Ebene sind solche Konsultationen möglich und wünschenswert, jedoch muß Ergebnissen dieser Art mehr politische Geltung verschafft werden.
14.
Kirchen und kirchliche Gruppen könnten und sollten sich an der Organisierung von Marktmacht
auf der Konsumentenseite beteiligen. Was gelegentlich und vereinzelt schon geschehen ist, sollte systematisch betrieben werden, z.B. der Boykott gentechnisch manipulierter Lebensmittel, der Boykott von Firmen, die Kinderarbeit in der 2/3-Welt ausbeuten, und der Boykott des zivilen Angebots von Firmen, die Kleinwaffen, Landminen und andere Rüstungsgüter für den Waffenhandel herstellen.

14
So waren es NRO's, die den in Geheimverhandlungen entstandenen Entwurf des Multilateralen Abkommens über Investment (MAI), in dem die Politik bereits vor den Ansprüchen der Investoren kapituliert hatte, in letzter Minute vorerst zu Fall brachten. NRO's waren es, die erreicht haben, daß das Vorsorgeprinzip erstmals in einen internationalen Vertrag Eingang fand. NRO's haben die sog. Milleniumskonferenz der WTO in Seattle zum Scheitern gebracht und so auf die z.T. verheerenden sozialen Folgen des internationalen Freihandels aufmerksam gemacht.
15
Ein Beispiel ist der gemeinsame Auftrag von Misereor und BUND an das Wuppertal Institut zur Erstellung der Studie "Zukunftsfähiges Deutschland".
24
15.
Die in der These I.16 angeregte soziale Gestaltung des Dritten Sektors (These I.14) durch die
Entwicklung regionaler Selbsthilfe-Ökonomien muß von den Betroffenen selbst ausgehen, nämlich in erster Linie von den Marginalisierten der Schicht (c) (These I.12). Aber sie bedarf unbedingt geeigneter gesetzlicher Rahmenbedingungen im Steuer-, Arbeits- und Gewerberecht sowie weiterer Unterstützung durch die Gebietskörperschaften des Staates. Die wichtigste ungenutzte Ressource dieser Menschen ist ihre Arbeitskraft und ihr Können. Es gibt aber auch brachliegendes Sachkapital in Gestalt von ungenutzten Immobilien und Liegenschaften, das ihnen möglichst kostenlos zur Verfügung gestellt werden sollte, damit sie Ansätze einer gemeinwesenorientierten Ökonomie der regionalen Grundversorgung mit Nahrung, Kleidung, Wohnung und Bildungentwickeln können. Dafür gibt es viele Ideen und z.T. auch schon praktizierte Modelle
16
.

Wenn genug solcher Ansätze da sind, ist die Einführung regionaler Komplementärwährungen nach den Vorschlägen von Bernard Lietaer
17
erforderlich. So kann erreicht werden, dass primär Arbeit und erst daraus abgeleitet Eigentum ­ z.B. in genossenschaftlicher Form ­ Grundlage dieser neuen Art des Wirtschaftens ist. So kann im Dritten Sektor der Grundwiderspruch zwischen Aufgabe und Ziel des Wirtschaftens überwunden werden, wie er nach These I, 14 (1) im Ersten, dem gewinnorientierten Sektor besteht.
Deshalb sollten sich die Kirchen ­ auch in eigener Sache ­ energisch dafür einsetzen, dass die Politik die Entwicklung regionaler Gemeinwesen-Ökonomien ermöglicht und nach Kräften fördert. Dies könnte u.a. dadurch geschehen, daß So ist der Dritte Sektor der Ökonomie der Bereich der Gesellschaft, in dem soziale Innovationen noch möglich sind, die herausführen können aus der evolutiven Sackgasse des reformunfähigen Ersten Sektors. Wenn dabei funktionsfähige Modelle des Wirtschaftens entwickelt und erprobt werden, kann dies den gesellschaftlichen Willen zu einer generellen Reform der Eigentums- und Geldordnung so stärken, daß er politisch umgesetzt werden kann. Nach allem, was wir erkannt haben, gehört eine solche Reform zu den Grundvoraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung, also für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung in der Welt.
(Arbeitsgruppe Gerechtigkeit, Jürgen Fischbeck)

16
Richard Douthwaite, Hans Diefenbacher, Jenseits der Globalisierung ­ Handbuch für lokales Wirtschaften, Mainz 1999
17
Bernard Lietaer, Die Zukunft des Geldes ­ Über die destruktive Wirkung des existierenden Geldsystems und die Entwicklung von Komplementärwährungen, Riemann Verlag 1999.
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V. Überwindung des Krieges: Nachhaltiger Frieden ­ der notwendige
Paradigmenwechsel in der Friedenspolitik und in der Friedensarbeit
Einführung
Bereits die Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung 1988/89 in Dresden-Magdeburg-Dresden hat im Beschluss 1: ,,Umkehr zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" einen Paradigmenwechsel von der Lehre vom gerechten Krieg zu einer Lehre vom gerechten Frieden angemahnt (Ziffer 36). Nach der Überwindung der Ost-West-Konfrontation wurde die Staatenwelt vor zusätzliche Herausforderungen gestellt. Ihre politische Fortentwicklung hält jedoch mit den Anforderungen an konstruktive Konfliktbearbeitung nicht Schritt. Die verbreitete Redeweise von einer ,,Weltgemeinschaft" geschieht noch immer im Vorgriff auf eine Wirklichkeit, die sich bis heute allenfalls in grundlegenden Strukturen abzeichnet. Um so wichtiger ist es, heute erneut darüber nachzudenken, wie die Überwindung der Institution des Krieges schrittweise in Realpolitik umzusetzen ist. Dazu will dieser Text einen Beitrag leisten.
Die Friedensbewegung hat keine einmütige Antwort zur Frage bewaffneter Interventionen finden können. Die Schwierigkeit einer solchen Antwort liegt in der Sache selbst begründet: Eine bedingungslose Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung stellt ­ auch dort, wo sie sich als prophetisches Zeichen versteht - vor die Frage, wie zu handeln ist, wenn ohne bewaffnetes Eingreifen schutzlose Dritte Opfer fremder Willkür und Gewalt zu werden drohen. Eine auch unter noch so strengen Bedingungen bejahte Gewaltanwendung zugunsten bedrohter Dritter sieht sich andererseits vor dem realen Risiko, dass im Vollzug von Gewaltanwendung die gesetzten ethischen Grenzen durchbrochen werden ­ es droht stets die Verstrickung in eine immer schwerer steuerbare Eskalation, in die ,,Spirale der Gewalt". Offenbar wird in diesem Dilemma jene Eigendynamik, die in vielen Formen organisierter Gewaltanwendung anzutreffen ist und sich der Einhegung durch Ethik und humanitäres Völkerrecht immer wieder entzieht. Dadurch wird zugleich deutlich, dass und warum ein einfaches Ja oder Nein zum Problem der Intervention den aufgeworfenen Fragen nicht gerecht werden kann.
Jenseits dieser Kontroverse bleibt es aber die entscheidende Gemeinsamkeit aller Menschen, die den Frieden vorantreiben wollen, dass sie gerade wegen der bedrängend ungelösten Fragen, die sich mit der Gewaltthematik verbinden, alles dafür tun müssen, der Gewalt vorzubeugen, ,,den Sumpf der Gewalt auszutrocknen". Nur so lässt sich auch verhindern, dass Gewalt immer wieder mit dem Argument politisch legitimiert werden kann, sie sei in der gegebenen Situation die ,,ultima ratio", weil gewaltvermeidende Alternativen nicht zur Verfügung stünden. Aus dem Geist dieses Konsenses ist das vorliegende Papier entstanden, und von ihm wird es getragen.
Die folgenden Positionsbestimmungen versuchen, sich bereits abzeichnende positive Entwicklungen zu unterstützen und zu verstärken. Durch das Benennen von Aufgabenfeldern ergeben sich für Politik, Kirchen, Kirchgemeinden und engagierte Christinnen und Christen Möglichkeiten gemeinsamen friedensethischen Handelns.
1. Vom ,,gerechten Krieg" zum ,,gerechten Frieden"
1.1
Um die Ursachen von Krieg und Gewalt zu bekämpfen, sind verlässliche gerechte politische und wirtschaftliche Strukturen zu errichten und zu stärken.
Autoritäre Machtverhältnisse müssen durch den Aufbau demokratischer Strukturen verändert, Unterentwicklung muss durch eine umfassende Strategie zur Armutsbekämpfung überwunden werden, damit eine Hauptursache für gewaltsame Konflikte im Vorfeld abgebaut wird. Dies macht Veränderungen im Bereich der internationalen Wirtschaftsbeziehungen notwendig, aber auch die innerstaatlichen Strukturen bedürfen in vielen Ländern der Reform.
1.2
Anstelle des Nachdenkens über die Bedingungen und ethischen Grenzen, denen der Gebrauch von Gewaltmitteln zu unterliegen hat, besteht primär die Pflicht zu einer präventiven Politik.
Sowohl die Träger der Politik wie die Zivilgesellschaften müssen frühzeitig auf sich anbahnende Konfliktsituationen reagieren und dürfen nicht warten, bis von den Konfliktparteien bereits Gewalt angewendet wird. Es muss ein politisches Frühwarnsystem entwickelt werden, das zeitgerechtes Reagieren zur Folge hat. Hier ist besonders die kritische Aufmerksamkeit und wahrheitsgemäße Berichterstattung der Medien von Bedeutung. Aber auch Hilfsorganisationen,
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zivile Friedensdienste und die Kirchen können durch ihre weltweite Präsenz wesentlich zu einer frühzeitigen Warnung vor eskalierenden Konflikten beitragen; sie sollten ihre Beobachtungen von gefährlichen Entwicklungen stärker in die Öffentlichkeit tragen und müssen mehr als bisher bereit sein, sich politisch für zeitgerechtes Handeln zu engagieren. Das jahrelange Verschweigen von Missständen und Fehlentwicklungen hat die Wirkung einer Bombe mit Zeitzünder.
1.3
Verwirklichte Gerechtigkeit wird zum qualifizierenden Merkmal eines Friedenszustandes.
Jeder Versuch, Frieden zu verwirklichen, kann nur insoweit gelingen, wie ungerechte durch gerechte Strukturen ersetzt werden. Innerhalb der Staaten, wie auch im internationalen System müssen überkommene außen- und wirtschaftspolitische Interessengeflechte dahingehend verändert werden, dass sie einem Mehr an Gerechtigkeit dienen. Dazu gehört auch der Vorrang der Politik gegenüber wirtschaftlichen und militärischen Interessen.
1.4
Verletzungen von Menschenrechten sind Verletzungen der Gerechtigkeit.
Die Charta der UN hat die Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu einem ihrer wichtigsten Ziele erklärt und alle Mitgliedsstaaten verpflichtet, gemeinsam und jeder für sich, dieses Grundziel anzustreben. Es kann nicht in das Belieben der jeweiligen staatlichen Machtträger gestellt sein, ob und welche Menschenrechte garantiert werden. Verletzungen von Menschenrechten müssen durch die internationale Staatengemeinschaft stärker geahndet werden. Das Eintreten für Menschenrechte ist in sich schon eine Methode der Gewaltprävention.
1.5
Friede hat deshalb notwendige politische, ökonomische, ökologische und soziale Voraussetzungen.
Die Menschenrechtspolitik muss auch die wirtschaftlichen und sozialen Rechte einbeziehen. Armutszonen und soziale Krisenregionen stellen eine ständige Bedrohung auch für die reicheren Länder dar. Ökonomische, ökologische und soziale Programme gerade in den armen Ländern sind notwendige präventive Maßnahmen, um Frieden für die Zukunft zu sichern.
2. Von einer am eigenen Nutzen orientierten Interessenpolitik zu einer Politik,
die einem übernational verstandenen Gemeinwohl dient
2.1
Überkommene Unrechtsverhältnisse und nationalstaatliche Eigeninteressen müssen durch die Förderung eines global verstandenen Gemeinwohls überwunden werden.
Die Globalisierung wird zu einer tödlichen Gefahr, wenn sie allein zur Durchsetzung egoistischer Interessen von Staaten, Staatengruppen oder wirtschaftlichen Verbänden missbraucht wird. Sofern Globalisierung einem global verstandenen Gemeinwohl dient, kann diese Entwicklung helfen, mehr Gerechtigkeit für die benachteiligten Staaten und Regionen zu ermöglichen. Dabei verdient Beachtung, dass in vielfältigen Bezügen der Respekt vor den legitimen Interessen anderer zugleich der Wahrung legitimer Eigeninteressen dient, ja deren Verwirklichung überhaupt erst ermöglicht. Die Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg ­ von den Anfängen in der Montanunion bis hin zur engen Zusammenarbeit auf vielen Gebieten im Rahmen der heutigen Europäischen Union ­ bietet ein eindrückliches Beispiel dafür, wie es gelingen kann, aufeinander zuzugehen und Interessenpartnerschaften zu entwickeln.
2.2
Jeder Schritt zu mehr Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Schutz von Minderheiten, genauso wie wirtschaftliche und soziale Fortschritte und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrund-lagen sind dringend notwendige präventive Maßnahmen zur Überwindung von Gewalt.
Das Prinzip der Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten dient häufig zur Rechtfertigung von Strukturen, die auf Dauer erhebliche Konfliktpotentiale in sich bergen. Für die Staatengemeinschaft kann es zum Alibi für mangelndes Interesse an den dringend erforderlichen Veränderungen in einzelnen Staaten dienen.
2.3
Das übergreifende Interesse der weltweiten Staatengemeinschaft muss besser organisiert werden, damit im Konfliktfall Einzelinteressen innerhalb oder zwischen einzelnen Staaten leichter überwunden werden können.
Die Instrumente und Zuständigkeiten internationaler Organisationen, insbesondere der UNO und ihres Weltsicherheitsrates müssen weiterentwickelt und den neuen Erfordernissen angepasst werden. Die Handlungsfähigkeit des Generalsekretariates muss erweitert und die Beschlussfähigkeit
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des Sicherheitsrates in Krisensituationen verbessert werden. Das Vetorecht sollte zumindest modifiziert werden. Dazu bedarf es der politischen Unterstützung und finanziellen Absicherung seitens der Großmächte, insbesondere der USA.
3. Von machtpolitischer Konkurrenz zu einem Konzept kooperativer Sicherheit
3.1
An die Stelle des Konkurrenzkampfes sollte Zusammenarbeit treten.
Die Verantwortlichen in der Politik der Nationalstaaten müssen zur Einsicht gelangen, wie stark das Schicksal ihres eigenen Landes in das der Völkergemeinschaft verflochten ist und dass im Augenblick gewonnene Konkurrenzen um Machtanteile langfristig verheerende Folgen zeitigen können. Bewusste Zusammenarbeit mit anderen Staaten, gerade auch mit weniger entwickelten Ländern, führt zu Interessenwahrnehmungen, die einer gemeinsamen Sicherheit dienen.
3.2
Das Recht des Stärkeren muss durch die Stärke des Rechts ersetzt werden.
Das in der Charta der Vereinten Nationen verankerte Gewaltverbot, wird nur dann wirklich eingehalten werden, wenn die Normen des internationalen Rechts weiter entwickelt werden. Noch bestehen erhebliche Regelungslücken gerade im Hinblick auf inner- und zwischenstaatliche Konflikte. Der Bruch des geltenden Völkerrechts, sei es bei Kriegsverbrechen, Menschenrechts-verletzungen oder Terrorismus, muss durch internat. Gerichte verfolgt und geahndet werden.
3.3
Starke zivile Komponenten, gemeinsame Beratung, Gegenseitigkeit, Verlässlichkeit, Transparenz und Prävention sind notwendige Elemente kooperativer Sicherheit.
Dem Ansatz liegt die Einsicht zugrunde, dass zahlreiche Akteure an der kooperativen Sicherheit beteiligt werden müssen, gesellschaftliche Gruppen genauso wie relevante Regierungsorganisationen usw. Es bedarf entsprechender Einübung in wirkliche Kooperation. So sollten gerade in Konfliktregionen die zivilgesellschaftlichen Kräfte vor Ort nachhaltig gestärkt werden, um auf diese Weise ein Gegengewicht gegen die vom Krieg profitierenden Gruppen zu schaffen. Durch Anreize zur Kooperation soll Friede tragfähig werden.
4. Von der Gewaltanwendung in vielfältigen Formen zur Minimierung jeglicher Gewalt
4.1
Gewaltanwendung ist die schwerste Form, die Würde und Integrität der menschlichen Person anzutasten.
Eine Auseinandersetzung mit der Gewaltprägung unserer Wirklichkeit, die eigene Gewaltneigung eingeschlossen, ist dringend erforderlich. Jüdisch-christliche Traditionen weisen ein kontinuierliches Bemühen auf, Gewaltanwendung mehr und mehr einzudämmen. Begriffe wie Rache oder Vergeltung missachten den Menschen als Geschöpf Gottes.
4.2
Gewalt wirkt auf ökonomischer, politischer, kultureller, sozialer und mentaler Ebene.
So wie sich Gewalt in vielfältigen Lebensbereichen und unterschiedlichsten Formen etabliert, müssen zur Überwindung von Gewalt Maßnahmen in der ganzen Breite der Bereiche versucht werden.
4.3
Verhältnisse fortdauernder Ungerechtigkeit sind in sich gewaltgeladen und gewaltträchtig.
Eine Welt, in der vielen Menschen fundamentale Rechte und ein menschenwürdiges Leben verweigert werden, provoziert zu unterschiedlichsten Formen der Gewalt, selbst wenn es keinen Krieg gibt.
4.4
Es ist stets mit ungerechten Situationen zu rechnen, in denen gewaltfreies Handeln unmöglich erscheint.
Die Ausweglosigkeit bestimmter Situationen verleitet einzelne Menschen, wie Gruppen, Völker und Staaten dazu, ihr Heil in der Gewaltanwendung zu suchen. Die Völkergemeinschaft muss alles nur Denkbare versuchen, ausweglos erscheinende Situationen zu überwinden und den Ausbruch von Gewalt zu verhindern. Es ist in solchen Situationen zu prüfen, in wieweit durch gezielte Sanktionen gegen die Verursacher des Unrechts, zur Gewaltminimierung beigetragen werden kann.
28
4.5
Gewalt entfaltet immer eine schwer kontrollierbare Eigendynamik.
Erfahrungsgemäß fordert jeder noch so begrenzte Gewalteinsatz Menschenleben, vor allem unter der Zivilbevölkerung. Darüber hinaus ist es typisch für jede Art von Gewaltanwendung, dass sie Gegengewalt hervorruft und diese im Regelfall stärker ist als die erlittene Gewalt. Die Spirale der Gewalt führt zur Eskalation. Gewalt erzeugt immer mehr Gewalt. Diese Eigendynamik kann nur durch jene unterbrochen werden, die Gewalt mit politischen und rechtlichen Mitteln zu überwinden und zu vermeiden suchen. Christen sollten selbst in scheinbar ausweglosen Unrechtssituationen Alternativen zu gewaltsamen Reaktionen und Krieg vorleben und einfordern. Dennoch werden Schuldkonflikte nicht zu vermeiden sein.
5. Von nationalstaatl. Interessenverfolgung mit Gewalt zum universalen Gewaltmonopol der UNO
5.1
Zunehmend verschwimmen die Grenzen zwischen Krieg und organisiertem Verbrechen, Terrorismus und massiven Menschenrechtsverletzungen.
Diese Entwicklung macht hilflos und betroffen. Auch hier muss das Schwergewicht auf der gewaltfreien Bekämpfung der Ursachen liegen.
Gewaltmaßnahmen durch Staaten und Militärbündnisse sind vom Terrorismusvorwurf nicht ausgenommen. Die Rolle der Geheimdienste muss überprüft werden. Präventives politisches Handeln muss darauf abzielen, den Einsatz militärischer Mittel zu vermeiden.
5.2
UN-Einsätze sind nicht auf den Sieg einer Konfliktpartei auszurichten, sondern müssen einem gerechten Frieden dienen.
Jede Anwendung von Gewalt soll soweit wie möglich minimiert werden. Ziel ist die Wiederherstellung der Basis für einen Verhandlungsprozess, der zum Frieden führt. Der Verzicht auf Sieg oder Vernichtung des Gegners bedeutet, von Kampfeinsätzen traditioneller Kriegführung weitgehend Abschied zu nehmen, und verlangt beträchtliche mentale Umstellungen sowohl bei Kommandeuren wie Soldaten.
5.3
Bewaffnete Interventionen müssen den Regeln des internat. Rechts unterworfen bleiben.
Die Handlungsfähigkeit der UNO muss auch in schweren Krisen sichergestellt werden. Regionale Organisationen und Bündnisse, zum Beispiel die NATO, bedürfen der Autorisierung durch die internationale Staatengemeinschaft. Die Herstellung von, die Bedrohung mit und der Einsatz von Massenvernichtungsmitteln sind zu unterbinden. Abrüstungsverträge dürfen nicht einseitig aufgekündigt werden.
6. Von der Minimierung zur Überwindung von Gewalt
6.1
Gewaltvorbeugung und Menschenrechtsschutz gehören auf das Engste zusammen.
Die Anwendung von Gewalt tendiert dahin, gerade jene Grundlagen zu zerstören, auf denen ein menschenwürdiges Zusammenleben beruht. Umso wichtiger ist es, für die grundrechtliche Sicherung der Persönlichkeitsrechte, der politischen und sozialen Teilhabemöglichkeiten aller gesellschaftlichen Gruppen Sorge zu tragen. Jedes Bemühen, andere vor Demütigung, Antastung ihrer menschlichen Würde und seelischen Verwundungen zu schützen, verhindert mögliche Gegengewalt. Der oft gebrachte Hinweis auf kulturelle Unterschiede erweist sich in vielen Fällen als haltlos, sobald die Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu Wort kommen.
6.2
Gewaltprävention ist vordringliche Aufgabe in Erziehung, Bildung und Medienarbeit.
Es gibt eine systematische Gewöhnung an Gewalt. Wer zählt die Opfer von Gewalt an einem einzigen Fernsehabend? Die Faszination von Gewalt muss aufgebrochen werden. Über alternative Möglichkeiten, der Gewalt zu begegnen, ist umfassend zu informieren und durch entsprechende Programme in sie einzuüben, damit sie situationsgerecht angewendet werden können. Diese Konzepte sind kreativ weiterzuentwickeln. Dazu gehört nicht zuletzt eine angemessene finanzielle Förderung. Ziel ist eine grundlegend neue Einstellung zum Umgang mit Gewalt. Die Achtung vor dem Leben, vor der menschlichen Würde muss vorgelebt und eingeübt werden, damit die Bereitschaft zur Gewaltanwendung überwunden werden kann. Die Programme kirchlicher Bildungseinrichtungen und theologischer Fakultäten sollten daraufhin untersucht werden, ob sie diesem Thema hinreichende Aufmerksamkeit widmen.
29
6.3
Gewaltprävention bedarf einer grenzübergreifenden Reduzierung und Kontrolle der Rüstungsproduktion und ­forschung wie auch der Beschränkung des Waffenhandels.
Rüstungsproduktion und ­forschung bergen die Gefahr immer neuer globaler und regionaler Rüstungswettläufe in sich. Die ökonomischen Triebfedern des Waffenhandels führen zur Überrüstung vieler Regionen. Dabei werden wertvolle Ressourcen gebunden, die in zivilen Bereichen dringend benötigt würden.
Die leichte Beschaffbarkeit von Waffen, besonders von Kleinwaffen, macht es Einzelnen wie Gruppen leicht, private Kriege zu führen und terroristische Aktionen durchzuführen. Gerade in unterentwickelten Regionen können sich regelrechte ,,Kriegssysteme" mit verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die dortige Bevölkerung herausbilden.
6.4
Die Begleitung von Abrüstungsmaßnahmen durch Konversionsprojekte ist ein wichtiger Schlüssel für die breite politische Unterstützung solcher Schritte.
Schritte der Abrüstung und Truppenreduzierung führen häufig zu negativen ökonomischen Folgen für die betroffenen Standorte. Damit solche Schritte nicht auf Proteste, sondern auf Zustimmung stoßen, ist staatliche Unterstützung unabdingbar, um nachfolgend die Konversion der Produktionsanlagen, Kasernen und sonstigen Militäreinrichtungen zur zivilen Nutzung voranzutreiben und neue Arbeitsplätze zu schaffen.
6.5
Die Dekade zur Überwindung von Gewalt, die der Weltkirchenrat für die Jahre 2001 bis 2010 ausgerufen hat, aktualisiert den Konziliaren Prozess und setzt ihn fort.
Die Dekade eröffnet die Chance, dass die Kirche mit ihren Gemeinden deutlicher als vorher als Ort der Gewaltüberwindung wahrgenommen wird. Angesichts der zentralen Aufgaben der Gewaltprävention wird der Zusammenhang der Bedrohungen von Gerechtigkeit, Frieden und der Bewahrung der Schöpfung in besonderer Weise sichtbar.
7. Vom Beschweigen von Schuld zur Nachsorge bei Konflikten
7.1
Unversöhnte Situationen sind der Nährboden für neue Gewaltausbrüche.
In unbewältigter Vergangenheit liegt fast immer der Keim künftiger Gewaltanwendung. Wo nichts gegen die Unversöhntheit gemeinsamer Geschichte getan wird, wird eine Chance zur Gewaltvorbeugung vertan.
7.2
Dauerhafte Folge von Gewalt ist eine individuelle oder gesellschaftliche Traumatisierung.
Traumatisierte Menschen brauchen Hilfe und Beratung. Gerade kollektive Traumatisierungen können den Wurzelgrund für das Entstehen neuer Gewaltverhältnisse bilden.
7.3
Die Auseinandersetzung mit Schuld und Gewalt kann an der praktischen Solidarität mit den Opfern und am Bemühen um Gerechtigkeit gegenüber den Tätern gemessen werden.
Traumatisierte Menschen brauchen zahlreiche Hilfen, um ihre Lebenssituationen zu meistern. Nur wer zupackt und hilft, tut etwas gegen Gewalt.
7.4
Was Opfer von Unrecht und Gewalt erlitten haben, muss zur Sprache gebracht werden.
Gerade das ganz persönliche Engagement von Einzelnen und zivilgesellschaftlichen Gruppen, die bereit sind, die Opfer zu Wort kommen zu lassen und so ihr Leid ein Stück weit mitzutragen, kann hier hilfreich sein.
7.5
Auch die Ursachen dafür, dass Menschen an Unrecht und Gewalt mitschuldig wurden, müssen bearbeitet werden.
Eine persönliche Begleitung Verstrickter bei ihrer Auseinandersetzung mit der Verantwortung für Unrecht und Leid, welches sie anderen zufügten, kann große Bedeutung dafür haben, dass sie fähig werden, das Geschehene zu betrauern, Reue zu empfinden und einen Neuanfang zu finden.
7.6
Konfliktsituationen sind mit dem Auge des Konfliktgegners zu betrachten.
Einseitige Schuldzuweisungen lassen sich nur relativieren, wenn die Beteiligten lernen, die unversöhnte Situation aus dem Blickwinkel des Konfliktgegners zu betrachten. Wir müssen dabei auch kritisch nach der eigenen Mitverantwortung und der Mitschuld an der Entstehung und dem Verlauf der Gewalteskalation fragen.
30
7.7
Ausgleich und Verständigung sind Schritte auf dem Weg zur Versöhnung.
Der Weg zur Versöhnung ist weit. Es ist schon viel erreicht, wenn Formen der Verständigung, des miteinander Sprechens, gefunden werden. Dabei ist es unerlässlich, dass Schuldige sich der Frage nach ihrer Verantwortung stellen.
7.8
Die Kirchen müssen nach ihrer eigenen Verstrickung in Schuldzusammenhänge fragen, weil sich dadurch neue Wege zu Versöhnung und praktischem Friedenshandeln eröffnen.
Die Kirchen müssen erkennen, dass sie durch Legitimierung von Gewalt, Duldung von Rassismus und Unterordnung unter autoritäre oder militaristische Regierungen mitschuldig wurden. Mutmachen und Unterstützung von Zivilcourage sowie Widerstand gegen Unrecht und falschen Obrigkeitsgehorsam sind Kennzeichen veränderter Einstellungen.
8. Von einer der militärischen Logik untergeordneten religiösen Betreuung von Soldaten zur
friedensfördernden Seelsorge
8.1
Die vollständige Unabhängigkeit von Verkündigung und Seelsorge von politischen Vorgaben ist bei jeder institutionellen Regelung unbedingt zu gewährleisten.
Die Friedensbotschaft des Evangeliums, die Bereitschaft zum Gewaltverzicht und die Liebe zum
Feind muss unverkürzt den Soldaten verkündet werden.
8.2
In die Seelsorge an Soldaten sind Seelsorger zu berufen, denen die Minimierung von Gewalt und der Vorrang von Prävention ein persönliches Anliegen ist.
Die friedensethischen Forderungen der Kirchen müssen von den Seelsorgern vorgelebt und den Soldaten nahegebracht werden.
8.3
Es muss Gewissensbildung für einen zeitgemäßen militärischen Gehorsam erfolgen.
Dazu gehören das Wissen darum, welchen ethischen und rechtlichen Grenzen Befehl und Gehorsam unterliegen, und die Möglichkeit, die Konsequenzen des geforderten Gehorsams daraufhin einschätzen zu können, ob diese Grenzziehungen respektiert werden. Da das geltende humanitäre Völkerrecht die Opfer bewaffneter Konflikte noch nicht hinreichend zu schützen vermag, sind auch künftig Fälle denkbar, in denen ein Soldat aus Gewissensgründen einen Befehl nicht befolgen kann. Er muss dann die Möglichkeit haben, seine Gewissensgründe darzulegen, und er muss von der Gehorsamspflicht entbunden werden können. Diese Fragen gewinnen angesichts einer wachsenden Zahl von militärischen Einsätzen zunehmend an Bedeutung, zumal dabei häufig Angehörige verschiedener Armeen zusammenwirken, die von deutlich unterschiedlichen militärischen Selbstverständnissen geprägt sind.
8.4
Bei Neuregelungen der Seelsorge an Soldaten ist diese geforderte Gewissensbildung zu verankern.
Im Lebenskundlichen Unterricht wie in der Einzelseelsorge müssen Soldaten - gerade im Zusammenhang mit Problemen der Gewissensverantwortung, vor die sie ihr Dienst stellt - in ihrem Seelsorger einen Ansprechpartner finden können, dem sie sich anvertrauen können. Die Kirchen, ihre leitenden Personen und Gremien und die Kirchgemeinden müssen dafür Sorge tragen, dass die Identität kirchlicher Friedensethik gerade im sensiblen Bereich der Seelsorge an Soldaten gewahrt bleibt.
9. Aufgabenfelder für Politik, Kirchen und Kirchgemeinden
9.1
Die Bundesregierung soll sich um den Auf- und Ausbau deutscher, europäischer und europa-übergreifender Vermittlungs- und Brückenfunktionen bemühen, insbesondere um die Errichtung und Unterstützung regionaler Sicherheitsstrukturen und darum, dass verstärkt Instrumente der zivilen Konfliktbearbeitung in eskalationsträchtigen Regionalkonflikten bereit gestellt werden.
9.2
Die Bundesregierung soll sich dafür einsetzen, dass der UN und regionalen Organisationen, wie zum Beispiel der OSZE, ausreichendes Personal für zivile Konfliktbearbeitung zur Verfügung steht.
9.3
Die Bundesregierung soll sich dafür einsetzen, dass im Rahmen der UN (analog Artikel 43 der Charta der Vereinten Nationen) und regionaler Organisationen wie der OSZE Polizeieinheiten
31
gebildet werden, welche in Situationen des Staatszerfalls und bei der Nachsorge von Konflikten zum Aufbau einer öffentlichen Ordnung eingesetzt werden können, die den Schutz grundlegender Menschenrechte garantiert.
9.4
Die Rüstungskontrolle und eine weitere Rüstungsreduzierung sind durch die Bundesregierung zu verstärken. Sie wird aufgefordert, sich für das Verbot aller Massenvernichtungsmittel einzusetzen.
9.5
Für die Waffenproduktion und den Waffenexport, wie auch für den Besitz von Waffen, sind durch die Bundesregierung entsprechende gesetzliche Regelungen im Rahmen der Europäischen Union weiter einzuschränken.
9.6
Die ethische Fragwürdigkeit von Waffenproduktion, Waffenhandel und der verbrecherische Gebrauch von Waffen ist durch die Kirchen verstärkt ins öffentliche Bewusstsein zu rufen.
9.7
Die Kirchenleitungen sollen sich beim Gesetzgeber für die Möglichkeit einsetzen, Steueranteile, die der Finanzierung militärischer Aufgaben dienen, aus Gewissensgründen für Friedensdienste und Entwicklungshilfe umzuwidmen.
9.8
Der Ausbau und die finanzielle Absicherung von zivilen Friedensfachdiensten und von freiwilli-gen Diensten für Jugendliche ist von der Bundesregierung und den Kirchen verstärkt zu fördern.
9.9
Der Einsatz in Friedensfachdiensten ist als Friedensdienst anzuerkennen und durch Bundesgesetz versorgungsrechtlich abzusichern.
9.10
Kirchenleitende Personen und Gremien sollen die ökumenischen Kontakte nutzen und ausweiten, um zur Prävention und gewaltlosen Konfliktbewältigung in Krisengebieten beizutragen.
9.11
Die Kirchen werden aufgefordert, verstärkt Beiträge zu einer zivilen Konfliktbearbeitung zu leisten.
9.12
Die Kirchenleitungen sollen Stipendien für die Ausbildung von Konfliktbearbeitern und Mediatoren gewähren und zivile Konfliktbearbeitung durch deren Einsatz ermöglichen.
9.13
Die Kirchenleitungen sollen Patenschaften für sowie Partnerschaften mit Gemeinden, auch anderer Konfessionen und Religionen, in Krisengebieten auf- und ausbauen.
9.14
Die Kirchenleitungen sollen alle ihre Möglichkeiten ausschöpfen, ,,fairen Handel" zu fördern, und bei ihren Einrichtungen auf die Abnahme von entsprechenden Produkten hinwirken.
9.15
Die Kirchenleitungen sollen sich für die Sicherung eines wertorientierten Unterrichtes, zum Beispiel Religions- und Ethikunterricht, an den Schulen zur Vermittlung friedensethischer Normen einsetzen.
9.16
Die Träger der politschen wie kirchlichen Bildungsarbeit sollen einem übernational verstandenen Gemeinwohl verstärkt Beachtung schenken.
9.17
In ihren Äußerungen zu Konfliktsituationen sollen die Kirchen und ihre Vertreter alle Aussagen vermeiden, die Gewaltanwendung legitimieren können.
9.18
Die Kirchgemeinden sollen in der Dekade zur Überwindung von Gewalt besonders solche Veranstaltungen fördern, durch die sichtbar wird, dass die Gemeinden selbst Prozesse der Gewaltüberwindung aktiv mittragen.
9.19
Kirchen, Gemeinden, alle relevanten zivilgesellschaftlichen Organisationen ­ vor allem die Selbstkontrollinstanzen der Medien ­ müssen Initiativen ergreifen, damit die Faszination von Gewalt in den Medien und in unserer Gesellschaft aufgebrochen und beendet wird.
9.20
Die Kirchgemeinden sollen sich den Opfern von Gewalt besonders zuwenden, ihnen solidarische Hilfe leisten und mit ihnen nach Wegen suchen, wie sie mit ihren traumatischen Erfahrungen zu leben vermögen.
9.22
Die Kirchgemeinden müssen sich auch der Täter annehmen, sie vor Vorverurteilungen schützen und zu ihrer Resozialisierung beitragen.
9.23
Die Kirchgemeinden sollen Raum geben für Gruppen, die zur Überwindung von Gewalt beitragen.
32
10. Verpflichtungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ökumenischen Versammlungen
10.1
Wir verpflichten uns, aktiv für eine Überwindung von Gewalt einzutreten.
10.2
Wir verpflichten uns insbesondere, gegen Feindbilder, Gewaltverherrlichung, Gewaltanwendung ­ zumal gegen Schwächere ­ auch bei Demonstrationen einzutreten.
10.3
Wir verpflichten uns, wachsamer und kritischer gegenüber Politikern und Medien zu sein, wenn es um Krisensituationen und bewaffnete Interventionen und ihre Begründungen geht, und Falschdarstellungen entgegen zu treten.
Wir erinnern an die vorrangigen Optionen und die Verpflichtungen der bisherigen Ökumenischen Versammlungen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.
Wir laden alle Christinnen und Christen und alle Menschen guten Willens ein, sich unseren Verpflichtungen anzuschließen
(Arbeitsgruppe Frieden heute)
33
VI. Aufbruch der Zivilgesellschaft ­ sich in Bündnissen zusammenschließen
1.
Aufbruch der Zivilgesellschaft
Wir stehen heute in einem weltweiten Ringen zweier gegensätzlicher Paradigmen und Bewegungen:
Beide Bewegungen stehen sich nicht klar abgegrenzt gegenüber, sondern überlappen sich auf den verschiedensten Ebenen, in den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Breichen und bis in die Lebensweise und Wertevorstellung des Einzelnen hinein.
Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist die Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio gewesen. Hier bekannten sich die Vertreter der führenden Industriestaaten klar zur Entwicklung einer ,,nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise," fielen aber im folgenden politischen Handeln wieder weitgehend in die alten Paradigmen zurück.
Dennoch sind die verschiedensten ,,Alternativbewegungen" stärker und bedeutsamer als meist gesehen. Zu ihnen gehören vor allem:
Untersuchungen in den USA haben ergeben, dass etwa ein Viertel der Bevölkerung zu den sogenannten ,,Kulturkreativen" (Cultural Creatives) gehört, zu Menschen, die in der Werteorientierung und Lebensweise den oben benannten alternativen Paradigmen nahe stehen und sie in Teilen praktizieren. In Deutschland und Westeuropa dürften es einige mehr sein. Hier entwickelt sich das, was heute oft ,,Zivilgesellschaft" genannt wird: eine geistige und kulturelle gesellschaftliche Kraft, die neben den herkömmlichen politischen Strukturen (Parteien, Parlament, staatliche Administration) ein nicht hoch genug einzuschätzendes Potential der Bürgerbeteiligung an demokratischen und zukunftsorientierten Prozessen ist.
2.
Sich in Bündnissen zusammenschließen und progressive Kraft entfalten
Dennoch muss festgestellt werden, dass dieses Potential bisher nicht entscheidend zur Wirkung kommt. Die verschiedensten alternativen Bewegungen wirken häufig nebeneinander her, ohne voneinander zu wissen oder sich zu verbinden, verlieren sich oft in Aktionen und Projekten, die den Geschehnissen hinterherlaufen. Anstatt andere Strukturen zu entwickeln, einzufordern und selber zu praktizieren, stehen sie mit Vorbehalten und in Konkurrenz zueinander. Was weitgehend fehlt, sind gegenseitige Kenntnisnahme wie organisatorische Strukturen der Vernetzung und Koordination. Damit die alternativen Bewegungen ihre gesellschaftspolitische Kraft wirklich zum Durchbruch bringen können und die zivilisatorische Entwicklung grundlegend verändern, sind Zielbestimmungen und Kooperation, ihre Bündelung und Formierung unerlässlich.
Hier gibt es verschiedene erfolgversprechende Ansätze, so die Entwicklung der internationalen und regionalen Sozialforen, die Bündnisbewegung Attac, die Arbeit des Koordinationskreises Ökumenischer Netze und Basisgruppen und verschiedene konkrete Aktionsbündnisse zu aktuellen Aufgaben.
34
3.
Mögliche Strukturen einer Bündnisbewegung für eine zukunftsfähige Gesellschaft
Die zivilgesellschaftliche Bündnisbewegung für eine zukunftsfähige Entwicklung sollte auf zwei Ebenen arbeiten: auf der Diskursebene und auf der Aktionsebene. Das könnte sich etwa wie folgt entwickeln:
4.
Herausforderung gemeinsamer Verantwortung
Sowohl auf der inhaltlichen Ebene wie auf der Aktionsebene kann es konfrontative Situationen gegenüber
der vorherrschenden Politik und den Machtinteressen der neoliberalen Globalisierung geben. Dennoch
muss von beiden Seiten her gesehen werden, dass es um eine gemeinsame Verantwortung für eine über-
lebensfähige Entwicklung der menschlichen Zivilisation geht. Die politischen Verantwortungsträger soll-
ten sich bewusst sein, dass sie ohne das Potential der Meinungsbildung und der Bürgerbeteiligung in den
zivilgesellschaftlichen Bewegungen keine nachhaltige, demokratisch getragene Politik betreiben können.
Sie sollten darum in diesen Bewegungen Motoren und Bündnispartner einer auf Zukunft orientierten
Politik sehen und diese mit öffentlichen Mitteln fördern.
Die alternativen Bündnisbewegungen sollten in den Vertretern der Politik und der Wirtschaft keine Feinde
sehen, sondern Verantwortungsträger, ohne die eine Gesellschaft nicht funktionieren kann. In ihren
Aktionen sollen sie sich zu den Prinzipien der Gewaltlosigkeit und der Demokratie verpflichten.
(Redaktionskreis, Bernd Winkelmann)
Diskursebene:
Einen breiten öffentlichen Diskurs über die Krisenentwicklung unserer Zivilisation und ihre Überwindung in Gang bringen und qualifizieren mit dem Ziel, die Konturen eines ,,Gesellschaftsvertrages" für eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Lebensweise zu erarbeiten.
Sozialforen auf verschiednen Ebenen:
- Weltsozialforum,
- Europäisches Sozialforum,
- Deutsches Sozialforum;
- regionale, städtische Sozialforen.
Einrichtung entsprechender Büros und Anlaufstellen auf den verschiedenen Ebenen.
Diskurs mit allen interessierten Gruppierungen und Einzelengagierten auf den verschiedenen Ebenen in der Art ,,Runder Tische" zu jeweils anstehenden Themen und Aufgaben, flankiert von einer breit angelegten intensiven Öffentlichkeitsarbeit.
Mitglieder der Sozialforen können alle Gruppierungen und Einzelne werden, die sich deren Zielstellung verpflichtet fühlen. Alle Foren sind darüber hinaus öffentliche Veranstaltungen.
Für jede Ebene eines Sozialforums gibt es einen gewählten Leitungskreis. Aus den Sozialforen der unteren Ebenen gibt es Vertreter für die überge-ordneten Sozialforen. Diese koordi-nieren Themen und Aufgaben des Diskurses.
Aktionsebene:
Aus den Anliegen und in Verbindung mit den Themen auf der Diskursebene und aus aktuellen Anlässen heraus Aktionen und Kampagnen inszenie-ren ­ ähnlich wie es bereits durch Attac geschieht.
Bündnis- und Aktionsgruppen auf verschiedenen regionalen und nationalen Ebenen. Einrichtung entsprechender Büros und Koordina-tionsstellen.
Die Strukturen von Attac könnten hier aufgenommen und weiterent-wickelt werden.
Aktionsbündnisse zu jeweils anstehen-den Kampagnen organisieren, die
a) aktuelle Informations- und Aufklärungsarbeit leisten,
b) Aktionen durchführen (Kund-gebungen, Demos, Unterschriften-sammlungen, Blockaden u.ä.)
Mitglieder der Aktionsbündnisse können alle Gruppierungen und Einzelne werden, die sich ihrer Zielstellung verpflichtet fühlen.
Für jede Ebene der Aktionsbündnisse gibt es einen gewählten Leitungskreis.
Aus den Aktionsbündnissen der unteren Ebenen gibt es Vertreter in übergeordneten Gremien. Diese koordinieren größere Aktionen.
Aufgabe:
Struktur:
Arbeitsweise:
Mitgliedschaft:
Leitung:
Verbindung beider Ebenen:
Ein Koordinationsrat ,,Zukunftsfähige Entwicklung"
mit Vertretern der Diskursebene und der Aktionsebene,
die Themen und Aktionen auf beiden Ebenen koordinieren und bündeln.
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Kontakt: Stiftung Ökumene, Service-Büro Wethen,
c/o Ökumenische Initiative Eine Welt
Mittelstr.4, 34474 Diemelstadt Tel.:05694-1417 Fax: - 1532
e-mail: aufbruch@anders-besser-leben.de
Internet: www.anders-besser-leben.de
Spendenkonto: Stiftung Ökumene Kto.: 0304103513, BLZ 52060410
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Aufruf Ökumenischer Bekenntnisprozess
»Wirtschaft im Dienst des Lebens«
Herausgefordert durch die Kirchen im Süden angesichts des Leidens der Menschen und der Zerstörung der Schöpfung haben der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK), der Reformierte und der Lutherische Weltbund (RWB und LWB) ihre Mitgliedskirchen zu einem ,,verbindlichen Prozess des Erkennens, Lernens und Bekennens (processus confessionis) im Kontext wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und Naturzerstörung" aufgerufen. Die im Rahmen dieses Prozesses in Westeuropa durchgeführte Konsultation (15.-19.06.02) zum Thema »Wirtschaft im Dienst des Lebens« richtete einen Brief an die Mitgliedskirchen, worin es u.a. heißt:
Die Generalsekretäre von ÖRK, RWB, LWB und KEK (Konferenz Europäischer Kirchen) rufen in ihrem Begleitschreiben zu diesem Brief unsere Kirchen auf, ,,auf die Herausforderungen der ökonomischen Globalisierung in verbindlicher Weise zu antworten ­ sowohl durch breite Diskussionsprozesse als auch durch Entscheidungen in den zuständigen Gremien" (epd-Dokum. 43a, S. 7). Auch katholische Partner wie Pax Christi, verschiedene Ordensgemeinschaften und die katholische Bischofskonferenz in den Niederlanden beteiligen sich bereits an diesem ökumenischen Prozess.
In Deutschland können wir an das Gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage, die Erlassjahrkampagne und die Dekade zur Überwindung von Gewalt anknüpfen. Der Ökumenische Kirchentag in Berlin 2003 bietet eine wichtige Gelegenheit, um die Beteiligung auf allen Ebenen zu stärken. Hier werden verschiedene Veranstaltungen den Prozess »Wirtschaft für das Leben« zum Inhalt haben. Wie in allen Kontinenten geht es dabei auch in Westeuropa vor allem um drei Fragen:
1.
Wie verhalten wir uns als Kirchen und Gemeinden zu Geist, Logik und Praxis der neoliberalen Globalisierung mit deren ausschließenden, kriegerischen und Natur zerstörenden Folgen?
2.
Wie glaubwürdig sind wir als Kirchen in unserem eigenen Wirtschaften (Geldanlagen usw.)?
3.
Wie können die Kirchen die biblische Option für die Armen - zusammen mit diesen und mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren wie Attac - eindeutig in die Politik einbringen?
In den Vollversammlungen der Weltbünde (2003/2004) und des ÖRK (2006) sollen die Ergebnisse der Beratungs- und Entscheidungsprozesse in allen Kontinenten zusammengetragen werden, um mit gemeinsamer Stimme und Aktion für eine ,,Wirtschaft im Dienst des Lebens" einzutreten.
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Wir rufen Christinnen und Christen, Gemeinden, ökumenischen Gruppen und Netze, kirchliche Verbände und Organisationen auf, sich je an ihrem Ort dafür einzusetzen, dass die kirchlichen Entscheidungsgremien von der lokalen bis zur bundesdeutschen Ebene die Briefe an die Kirchen in Westeuropa und damit die Herausforderungen der neoliberalen Globalisierung auf breiter Ebene zur Diskussion stellen und verbindlich in Wort und Tat beantworten.
,,Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit" (1Ko 12,26)
Erstunterzeichnende des Aufrufs:
Organisationen und Kontaktpersonen:
· Amt für Jugendarbeit der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, ReferentInnenkonferenz / Hans Schlicht,
Nürnberg
· Bündnis 2008 / Dr. Martin Hoffmann, Bayreuth
· Hendrik-Kraemer-Haus / Sabine Albrecht, Berlin
· Kairos Europa / Prof. Dr. Ulrich Duchrow, Martin Gück, Heidelberg;
Christoph Rinneberg, Wembach)
· KASA - Kirchliche Arbeitsstelle Südliches Afrika / Dr. Theo Kneifel, Heidelberg
· Initiative Ordensleute für den Frieden /
IOF- Markus Fuhrmann OFM - Gregor Böckermann, Frankfurt
· Missionszentrale der Franziskaner / Richard Nestvogel, Bonn
· PRO OEKUMENE-Initiative in Württemberg / Werner Gebert, Tübingen
· Solidarische Kirche in Westfalen, Regionalgruppe Bielefeld / Erika Stückrath, Bielefeld
· Solidarische Kirche im Rheinland / Erika Franze-Haugg, Mülheim
Einzelpersonen:
Norbert Arntz, Münster · Carl Amery, München · Ilse und Dr. Markus Braun, Tübingen
Theo Christiansen, Mitarbeiter im Kirchenkreis Stormarn, Nordelbien
Dr. Hans-Jürgen Fischbeck, Kommunität Grimnitz · Bernd H. Göring,
Initiative Kirche von unten · Dr. Ruth Gütter,
Beauftragte für kirchlichen Entwicklungsdienst der Ev. Kirche in Kurhessen-Waldeck
Karl-Dieter Hahn, Nürnberg · Martin Herndlhofer, Pax Christi, Bad Vilbel
Dr. Willibald Jacob, Berlin · Frank Kürschner-Pelkmann, Redaktion Junge Kirche, Hamburg
Hartwig Liebich, Propst im Kirchenkreis Stormarn, Nordelbien · Heiko Lietz, Theologe,
Koordinationskreis der Ökumenischen Basisgruppen, Berlin · Dr. Fred Mahlburg, Leiter der Evang.
Akademie, Rostock · Friedhelm Meyer, Pfarrer i.R., Düsseldorf
OKR Dr. Ulrich Möller, Reformierter Bund, Detmold
Christine Müller, Arbeitsstelle Eine Welt in der Ev. Luth. Landeskirche Sachsens, Leipzig
Dr. Thomas Posern, Wiesbaden · Hansjürgen Rietzke, Pfarrer i.R., Hucksdorf
Dr. Walter Romberg, Berlin · Ulrike Schmidt-Hesse, Pfarrerin und Studienleiterin
Dr. Franz Segbers, Priv. Doz., Daaden · Prof. Dr. Dorothee Sölle, Hamburg
Prof. Dr. Fulbert Steffensky, Hamburg · Dietrich Zeilinger, Pfarrer,
Landesbeauftragter für Mission, Ökumene, Konziliaren Prozeß, Karlsruhe
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Antwort
zum Aufruf zum Ökumenischen Bekenntnisprozess «Wirtschaft im Dienst des Lebens»
Ich / wir unterzeichne/n den Aufruf als
Gruppe/Organisation ­ Verantwortliche Person: .....................................
Einzelperson (Organisation oder Ort)
Ich / wir bringe/n die ,,Briefe an die Kirchen in Westeuropa" und die Herausforderungen der neolib-
eralen Globalisierung ein bei:
Bekanntenkreis
Pfarrgemeinderat, Ältestenkreis o.ä. in
Bezirks-/ Kreissynode, Dekanat o.ä. in
Landessynode/Diözesanrat in
anderen Gremien:
(Beide Briefe sind abgedruckt in epd-Dokumentation 43a/14.10.02 und zusammen mit Material für
Gemeinden und Gruppen erhältlich bei Kairos Europa c/o N. Hueck, Stöckenhalde 13,74427
Fichtenberg, Tel/Fax 07971-3744 oder über www.kairoseuropa.de).
Ich/wir unterstütze/n den Ökumenischen Bekenntnisprozess durch eine Spende in Höhe von
einmalig
............ auf das Konto von KAIROS EUROPA e.V. (Deutschland)
monatlich ............ Ökobank Frankfurt/M. ­ BLZ 500 901 00 ­ Konto 760 03 05
jährlich
............ Verwendungszweck: Bekenntnisprozess
Ihre persönlichen Angaben:
......................................... ......................................... ........................................
Name
Vorname
ggf. Organisation
......................................... ......................................... ........................................
Land, PLZ
Ort
Straße
......................................... ......................................... ........................................
Email
Tel./Fax
Unterschrift
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KAIROS EUROPA e.V. (Deutschland)
Hegenichstraße 22 ­ D - 69124 Heidelberg
Fax: +49 (0) 62 21-71 60 06 ­ E-mail: info@kairoseuropa.de
oder melden Sie sich online unter www.kairoseuropa.de zurück
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Die Erd-Charta
,,Earth Charter" - Final Version vom 24.03.2000
Deutsche Übersetzung vom 08.05.2001
Präambel
Wir stehen an einem kritischen Punkt der Erdgeschichte, an dem die Menschheit den Weg in ihre Zukunft wählen muß. Da die Welt zunehmend miteinander verflochten ist und ökologisch zerbrechlicher wird, birgt die Zukunft gleichzeitig große Gefahren und große Chancen. Wollen wir vorankommen, müssen wir anerkennen, dass wir trotz und gerade in der großartigen Vielfalt von Kulturen und Lebensformen eine einzige menschliche Familie sind, eine globale Gemeinschaft mit einem gemeinsamen Schicksal. Wir müssen uns zusammentun, um eine nachhaltige Weltgesellschaft zu schaffen, die sich auf Achtung gegenüber der Natur, die allgemeinen Menschenrechte, wirtschaftliche Gerechtigkeit und eine Kultur des Friedens gründet. Auf dem Weg dorthin ist es unabdingbar, dass wir, die Völker der Erde, Verantwortung übernehmen füreinander, für die größere Gemeinschaft allen Lebens und für zukünftige Generationen.
Die Erde, unsere Heimat
Die Menschheit ist Teil eines sich ständig fortentwickelnden Universums. Unsere Heimat Erde bietet Lebensraum für eine einzigartige und vielfältige Gemeinschaft von Lebewesen. Naturgewalten machen das Dasein zu einem herausfordernden und ungewissen Ereignis, doch die Erde bietet gleichzeitig alle wesentlichen Voraussetzungen für die Entwicklung des Lebens. Die Selbstheilungskräfte der Gemeinschaft allen Lebens und das Wohlergehen der Menschheit hängen davon ab, ob es uns gelingt, eine gesunde Biosphäre zu bewahren mit all ihren ökologischen Systemen, dem Artenreichtum ihrer Pflanzen und Tiere, fruchtbaren Böden, reinen Gewässern und sauberer Luft. Die globale Umwelt mit ihren endlichen Ressourcen ist der gemeinsamen Sorge aller Völker anvertraut. Die Lebenfähigkeit, Vielfalt und Schönheit der Erde zu schützen, ist eine heilige Pflicht.
Die globale Situation
Die vorherrschenden Muster von Produktion und Konsum verursachen Verwüstungen der Umwelt, Raubbau an den Ressourcen und ein massives Artensterben. Sie untergraben unser Gemeinwesen. Die Erträge der wirtschaftlichen Entwicklung werden nicht gerecht verteilt und die Kluft zwischen Reichen und Armen vertieft sich. Ungerechtigkeit, Armut, Unwissenheit und gewalttätige Konflikte sind weit verbreitet und verursachen große Leiden. Ein beispielloses Bevölkerungswachstum hat die ökologischen und sozialen Systeme überlastet. Die Grundlagen globaler Sicherheit sind bedroht. Dies sind gefährliche Entwicklungen, aber sie sind nicht unabwendbar.
Die Herausforderungen
Wir haben die Wahl: Entweder bilden wir eine globale Partnerschaft, um für die Erde und füreinander zu sorgen, oder wir riskieren, uns selbst und die Vielfalt des Lebens zugrunde zu richten. Notwendig sind grundlegende Änderungen unserer Werte, Institutionen und Lebensweise. Wir müssen uns klar machen: sind die Grundbedürfnisse erst einmal befriedigt, dann bedeutet menschliche Entwicklung vorrangig ,,mehr Sein" und nicht ,,mehr Haben". Wir verfügen über das Wissen und die Technik, alle zu versorgen und schädliche Eingriffe in die Umwelt zu vermindern. Das Entstehen einer weltweiten Zivilgesellschaft schafft neue Möglichkeiten, eine demokratische und humane Weltordnung aufzubauen. Unsere ökologischen, sozialen und spirituellen Herausforderungen sind miteinander verknüpft, und nur zusammen können wir umfassende Lösungen entwickeln.
Weltweite Verantwortung
Um diese Wünsche zu verwirklichen, müssen wir uns entschließen, in weltweiter Verantwortung zu leben und uns mit der ganzen Weltgemeinschaft genauso zu identifizieren wie mit unseren Gemeinschaften vor Ort. Wir sind zugleich Bürgerinnen und Bürger verschiedener Nationen und der Einen Welt, in der Lokales und Globales miteinander verknüpft ist. Jeder Mensch ist mitverantwortlich für das gegenwärtige und zukünftige Wohlergehen der Menschheitsfamilie und für das Leben auf der Erde. Der Geist menschlicher Solidarität und die Einsicht in die Verwandtschaft alles Lebendigen werden gestärkt, wenn wir in Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Seins, in Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens und in Bescheidenheit hinsichtlich des Platzes der Menschen in der Natur leben. Für das ethische Fundament der entstehenden Weltgemeinschaft brauchen wir dringend eine gemeinsame Vision von Grundwerten. Darum formulieren wir in gemeinsamer Hoffnung die folgenden eng zusammenhängenden Grundsätze für einen nachhaltigen Lebensstil. Es sind Leitlinien für das Verhalten jedes Einzelnen, von Organisation, Unternehmen, Regierungen und übernationalen Einrichtungen ...
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Infos und Adressen zu Initiativen und Bewegungen
Die Erd-Charta ist ein internationales Projekt, das ethische Grundsätze für eine nachhaltige Erntwicklung der menschlichen Zivilisation völkerrechtlich bei den Vereinten Nationen verankern will. Der Text der Erd-Charta liegt vor und soll als verbindliche Übereinkunft der Völkergemeinschaft beim nächsten ,,Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung" beschlossen werden. Koordinationsstelle für Deutschland Büro der ÖIEW, Mittelstraße 4, 34474 Diemelstadt-Wethen; Tel. 05694/1417; Mail: erdcharta@oeiew.de.
Der Ökumenische Bekenntnisproz. ,Wirtschaft im Dienst des Lebens ' (processus confessionis) ist in verschiedenen Weltkirchenver-sammlungen auf Drängen der Kirchen des Südens angeregt worden. Die Kirchen insbesondere in Westeuropa und den USA werden aufgerufen, einen ,,verbindlichen Prozess des Erkennens, Lernens und Bekennens im Kontext wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und Naturzerstörung" aufzunehmen. ,,Kairos Europa" ruft Gruppen, Gemeinden und Einzelne auf, in ihren Kirchen auf verbindliches Reagieren zu drängen. Kontakt: Kairos Europa e.V.; Hegenichstraße 22; 69124 Heidelberg; Tel: 06221/ 716006: Mail: info@kairoseuropa.de
Die neue Initiative ,,Aufbruch ­ anders besser leben" gibt Anregungen und Ermutigungen für eine zukunftsfähige Lebensweise (s. o. S. 32ff.) Faltblatt und Handbuch sind zu beziehen bei Ökumenische Initiative Eine Welt, Mittelstr. 4, 34474 Diemelstadt Tel: 05694-1417; Fax: -1532; email: aufbruch@anders-besser-leben.de
www.anders-besser-leben.de
Das Deutsche Sozialforum ist nach der Etablierung des Weltsozialforums in Porte Alegre 2001 und des Europäischen Sozialforums in Florenz 2002 im Entstehen. Es will als gesellschaftliches Forum einen öffentlichen Raum bieten, in dem ein breites Spektrum zivilgesellschaftlicher Akteure weiterführende globalisierungskritische Diskussionen über notwendige Entwicklungen führen und sich über politische Basiserfahrungen austauschen. Kontakt: Jens Löwe, Tel: 0711-4600632,Fax: 487469; Mail:info@nwwp.de
ATTAC ist eine globalisierungskritische Bewegung, 1998 in Frankreich entstanden, heute mit großem Zulauf vor allem junger Menschen in über 30 Ländern aktiv. Attac versteht sich als Bündnisbewegung gegen eine weitere neoliberale Globalisierung und fordert eine Globalisierung der sozialen demokratischen Grundrechte und der ökologischen Entwicklung. Es entstehen regionale Attac-Gruppen, die in Attac-Deutschland zusammenarbeiten Kontakt: Münchener Str. 48; 60329 Frankfurt/Main; Tel.: 069-90028110; info@attac-netzwerk.de
Projekt der Ökumenischen Basisgruppen und Initiativen
Der Ökumenische Prozess gegenseitiger Verpflichtung auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung hat mit dem in Rio 1992 beschlossenen Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert (Agenda 21 ­Prozess) seine säkulare Entsprechung gefunden. Beide Prozesse streben als Leitbild eine Nachhaltige Entwicklung an. Um diese Prozesse zusammenzuführen, ist auf Initiative der Ökumenischen Basisgruppen in Kooperation mit der Stiftung Ökumene ein Projekt-Büro eingerichtet worden, das unter folgender Adresse bis 31.12.2003 erreichbar ist:
Stiftung Ökumene, Projektbüro,
Dietrich-Bonhoeffer-Haus, Ziegelstr. 30, 10117 Berlin,
Tel.: 030 283039-22, Fax ­25,
eMail: projektbuero@global-denken-lokal-handeln.de,
Internet: www.global-denken-lokal-handeln.de
Der Berliner Aufruf Ökumenischer Basisgruppen ist ein Diskussionsergebnis, das der Koordinationskreis erarbeitet hat. Ihm wird zugearbeitet durch das Projektbüro, welches das vom UBA und BMU geförderte Projekt ,,Initiierung von Modellen für die Verankerung der Nachhaltigkeitsstrategie in Kultur und Gesellschaft ­ exemplarisch im Rahmen des Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung (GFS-Prozess) von kirchlichen Gruppen und Initiativen" durchführt. Der Inhalt muss nicht mit den Ansichten der Förderer übereinstimmen.
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Geplante Projekte des Koordinationskreises Ökumenischer Netze und Basisgruppen
Ökumenischer Ratschlag in Kassel: 7. und 8. November 2003:
Beteiligung am Deutschen Sozialforum: Frühjahr 2004
Ökumenische Basisversammlung: Herbst 2004
,,Gerechter Frieden - verantwortete Zukunft für die eine Erde"
Ökumenische Versammlung der in der ACK zusammenarbeitenden Kirchen Deutschlands und der Ökumenischen Netze und Basisgruppen 2005

Ökumenische Netze und Kooperationspartner in Deutschland
Baden
Oekumenisches Netz Baden
Wolfgang Lenssen
Köndringer Str. 10
79331 Teningen-Heimbach
Tel.:
07641 - 573280 (p)
Tel.:
07641 - 41335 (d)
e-Mail1: wolfgang.lenssen@tensionmail.de
e-Mail2: jutta.wenz@web.de
Bayern
Oekumenisches Netz in Bayern
c/o H. H. Willberg
Mühlbachweg 13
90559 Burgthann
Tel.:
09183 - 950039
e-Mail: HHWillberg@compuservice.com
Berlin
Oekumenischer Rat Berlin-Brandenburg
Ökumenisch-Missionarisches Institut
Gierkeplatz 2-4
10585 Berlin
Tel.:
030 - 3421000
Fax:
030 - 4289111
e-Mail1: oerbb@gmx.de
e-Mail2: post@oerbb.de
INKOTA
Greifswalder Str. 33a
10405 Berlin
Tel.:
030 - 4289112
Arbeitskreis Ökonomie und Kirche
c/o Dr. Dietrich Schirmer
Tulpenstraße 2
12203 Berlin
Dr. Barbara Hähnchen
Kastanienallee 2a
16341 Röntgental
Kommunität Grimnitz
Jürgen Fischbeck
Grimnitzer Straße 15
16247 Joachimsthal
Christen für gerechte Wirtschaftsordnung (CGW)
c/o Albrecht Grüsser
Rudoloffweg 12
14195 Berlin
(Arbeitskreise in ganz Deutschland)
Bremen
Oekumenische Initiative Bremen
c/o ,,Form Kirche"
Haus Kirchlicher Dienste
Hollerallee 75
28209 Bremen
Tel.:
0421 - 34615-36
Fax:
0421 - 34615-38
e-Mail1: oekumeneHB@t-online.de
e-Mail2: oekumene.forum@kirche-bremen.de
Hamburg
Solidarische Kirche in Nord-Elbien
c/o Ekke Fetköter
Porrendeich 6
25889 Uelvesbüll
Tel./Fax:04864 - 704
Hessen
Oekuemisches Netz Nord- und Osthessen
c/o Pfr. Reiner Weiß
Obere Sommerbachstr. 8
34225 Baunatal
Tel.:
05601 - 8435
e-Mail: i.r.weiss@t-online.de
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Niedersachsen
Oekumenisches Netz in Niedersachsen
Gerhild Kramer
Wellerserstr. 14
37585 Dassel
Tel.:
05562 - 6794
e-Mail: wolfgang-gerhild.kramer@gmx.de
Oekumenisches Zentrum Oldenburg e.V.
Kleine Kirchstr. 12
26122 Oldenburg
Tel./Fax:0441 - 2489524
Pfalz
Arbeitsstelle Friedensdienst der Ev. Kirche der
Pfalz
Referat Konziliarer Prozess
Eberhard Dittus
Große Himmelsgasse 3
67346 Speyer
Tel.:
06232 - 6715 17
Fax:
06232 - 671567
e-Mail: dittus@friedensdienst-pfalz.de
Rheinhessen
Oekumenisches Forum Rheinhessischer Aktions-
gruppen
Grossner Mission
Albert-Schweitzer-Str. 113-115
55128 Mainz
Tel.:
06131 - 23 20 31
Rhein-Mosel-Eifel-Hunsrück-
Westerwald
Oekumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar
Pfarrer-Werner-Mörchen-Str. 1
56564 Neuwied
Tel.:
02631 - 354140
Fax:
02631 - 354141
e-Mail: Oekumenisches.Netz@t-online.de
Rheinland
Oekumenischer Trägerkreis Rheinland
c/o Wiebke Naumann
Zeughausstr. 7
53721 Siegburg
Tel.:
02241 - 67601
Fax:
02241 - 959793
e-Mail1: naumann@oikoumene.de
e-Mail2: koeln-bonn@oikoumene.de
Oekumenisches Forum im Rheinland
Lohstr. 132
46047 Oberhausen
Solidarische Kirche im Rheinland
Kirchliche Bruderschaft
c/o Erika Franze-Haugg
Mozartstraße 9
45578 Mühlheim a. d. Ruhr
Tel.:
0208 - 593023
e-Mail: haugg@geonet.de
Oekumenisches Netz Mittelrhein e.V.
Erhard Dischler
Immermannstr. 7
41516 Grevenbroich
Tel.:
02182 - 2590
Fax:
02182 - 2745
e-Mail: OekumNetzMittelrhein@t-online.de
Sachsen
Oekumenisches Informationszentrum
Kreuzstraße 7
01067 Dresden
Tel.:
0351 - 4923368
Fax:
0351 - 4923360
Sachsen-Anhalt
Arbeitsstelle Eine Welt
Pfr. J.-H. Witzel
Leibnitzstr. 4
39104 Magdeburg
Tel.:
0391 - 5346-493
Fax:
0391 - 5346-490
e-Mail: aew@ekkps.de
Kirchliches Forschungsheim
Friedrichstraße 1a
06886 Wittenberg
Tel.:
03491 - 467090
Fax:
03491 - 400213
Westfalen
Oekumenisches Netz in Westfalen
Jens Dechow
Olpe 35
44135 Dortmund
Tel.:
0231 - 5409-73
Fax:
0231 - 5409-21
e-Mail1: JDechow@arbeitsstelle-moewe.de
e-Mail2: tehren@arbeitsstelle-moewe.de
Solidarische Kirche Westfalen-Lippe
Michael Nelson
Ostberger Str. 26
Tel.:
02304 - 15850
e-Mail: muhr-nelson@freenet.de
Württemberg
Oekumenisches Netz Württemberg
Johanna Moltmann-Hermann
Riedhöfe 2
88410 Bad Wurzach
Tel./Fax:07564 - 4479
e-Mail: oenw.hermann@gmx.de